Shortlist Wirtschaftsbuchpreis 2024: Europa ist nicht alles, aber ohne Europa ist alles nichts

Düsseldorf. Die Europäische Union ist alles andere als perfekt, ihre Lage im geopolitischen Umfeld alles andere als komfortabel – und doch ist sie alles, was wir haben. Ein weiteres Zusammenwachsen, eine tiefere Integration ist deshalb ein Imperativ der Politik. Aber das wird nur funktionieren, wenn die EU ökonomisch erfolgreich ist.
„Europa muss sich rechnen“, so bringt der Ökonom Gabriel Felbermayr diesen Gedankengang in seinem neuen Buch als Titel auf den Punkt. Der Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) analysiert die aktuelle Situation Europas ebenso treffend wie schonungslos, verzichtet dabei weitgehend auf das typische Pathos, das bei Reflexionen über den Kontinent gängig ist.
Und: Er macht vor allem auch konkrete Reformvorschläge, um die Union voranzubringen. Es geht in diesem Buch weniger um wertebasierte Illusionen über die „Vereinigten Staaten von Europa“ als vielmehr um die ökonomischen Notwendigkeiten, um nicht vollständig im Duell der großen Weltmächte China und USA marginalisiert zu werden.
Der hilflose Kontinent
Zunächst beschreibt Felbermayr die Ausgangslage: Europa werde „technologisch von Ost und West abgehängt“, es stehe der zunehmenden „geopolitischen Polarisierung“ hilflos gegenüber, seine „demografische Entwicklung macht einen weiteren Verlust an relativer Bedeutung in der Welt unvermeidbar“. Außerdem herrschten an seinen Grenzen Krieg und Flüchtlingschaos.
Um die Dimensionen des Bedeutungsverlusts klarzumachen, blickt der ehemalige Präsident des Instituts für Weltwirtschaft auf das größte und wirtschaftlich stärkste Land in Europa: Deutschland sei im globalen Maßstab für sich genommen ein sehr kleiner Spieler. Tatsächlich repräsentiert die BRD nur circa ein Prozent der Weltbevölkerung, Tendenz stark sinkend. Die Wirtschaftskraft beläuft sich auf ungefähr vier Prozent der globalen Bruttowertschöpfung, auch hier ist die Tendenz stark fallend.
All das klingt alarmierend, ist aber aus Sicht Felbermayrs kein Grund zur Resignation. Denn immer noch sei Europa eine große Handelsmacht. Europas Anteil an den globalen Exporten von Gütern und Dienstleistungen liege mit „15 Prozent noch immer deutlich über dem Anteil Chinas oder der USA“, der Anteil bei den Importen liege gemeinsam mit den USA bei ebenfalls rund 15 Prozent und signifikant über jenem Chinas.
Gabriel Felbermayr: Europa muss sich rechnen
Brandstätter Verlag
Wien 2024
152 Seiten
20 Euro
Ein entscheidender Faktor, um auf geopolitischer Ebene eine Rolle zu spielen, ist deshalb der Binnenmarkt. „Je größer und integrierter dieser ist, umso dynamischer ist er. Umso eher kann er Schutz gegen Risiken aus dem Ausland bieten“, schreibt Felbermayr. Er schätzt das zusätzliche reale Einkommen durch die Existenz des Binnenmarkts auf 500 Milliarden Euro. Deshalb sei es notwendig, die Fragmentierung, die in vielen Bereichen noch herrsche, zu überwinden – etwa auf dem Energie-, dem Rüstungs- oder vor allem dem Kapitalmarkt.
Notwendige Bedingung für einen integrierten Kapitalmarkt war und ist der Euro, weshalb Felbermayr sich ausführlich mit der Kritik an der unvollendeten Währungsunion beschäftigt. Aus seiner Sicht ist es kaum vorstellbar, dass „sich eine große Handelsmacht wie die EU ohne eigene Währung in Zeiten hoher geopolitischer Risiken behaupten kann“.
Inkonsistenzen in der geldpolitischen Ordnung der Euro-Zone führten aber dazu, „dass der Euro als weltweit verwendete Währung nicht die Bedeutung hat, die man sich als Europäer wünschen würde und erwarten dürfte“.
Felbermayr argumentiert hier ausgewogen, das macht die Sache glaubwürdig. Einerseits verweist er auf die innere Stabilität des Euros. Denn entgegen der in Deutschland oft geäußerten Behauptung war die durchschnittliche Inflationsrate in den knapp 25 Jahren seit Existenz des Euros deutlich geringer als der über die aktuellen Mitgliedsländer ermittelte Durchschnitt während des Vierteljahrhunderts davor.
Andererseits betont Felbermayr, dass der Preis für die Euro-Rettung eine extrem expansive Geldpolitik war. Und dass die notwendige Stabilisierung dazu geführt hat, hohe Schuldenanteile in den Mitgliedstaaten auf die Bilanz der Europäischen Zentralbank zu nehmen. Die Schulden wurden quasi gegen das Verbot der Staatsfinanzierung monetarisiert.
Europa muss sich rechnen
Felbermayr schreckt auch vor unpopulären Forderungen nicht zurück, etwa einem deutlich größeren EU-Budget von deutlich mehr als vier Prozent der EU-Wirtschaftsleistung. Das wäre ungefähr das Vierfache des aktuellen Haushalts. Das Budgetrecht müsste dabei klar definiert und eng umgrenzt sein. Es dürfte sich nur auf Themen beziehen, für die die Verträge explizite Zuständigkeiten vorsehen. Felbermayr kann sich etwa vorstellen, dass auch die Verteidigung zunehmend gemeinschaftlich organisiert und finanziert wird.
Die Essenz seiner Überlegungen: Ein größeres Budget muss nicht zwingend mit einer Schuldenunion einhergehen – und dürfe es auch nicht. Aber Felbermayr verbindet damit die Chance, endlich so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit zu schaffen. Das wiederum sei notwendig für eine demokratische Weiterentwicklung und letztlich auch die Akzeptanz der Union.



Anders als für viele Autoren zum Thema ist für Felbermayr die Weiterentwicklung und Vertiefung Europas kein Selbstzweck. Europa muss sich rechnen. Dass es das tut, wenn die richtigen Reformen durchgeführt werden, daran hat der Ökonom allerdings keinen Zweifel. Felbermayr argumentiert nüchtern, klar verständlich und hat eine konstruktive Haltung. In seiner Kürze und Klarheit ist das Buch vorbildlich. Und ja, auch ohne Pathos wird dem Leser die Bedeutung Europas klar – politisch, geopolitisch und vor allem auch ökonomisch.
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Erstpublikation: 15.09.2024, 10:46 Uhr.






