Geldpolitik Rauswurf des Zentralbankchefs – Türkische Lira stürzt ab

Der Staatspräsident ist ein erklärter Gegner hoher Zinsen. Die Politik des neuen Notenbankchef liegt deutlich näher an seinen Vorstellungen.
Istanbul Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat zum dritten Mal seit Mitte 2019 den Notenbank-Chef entlassen – offenbar erneut aus Ärger über höhere Zinsen. Einer überraschenden Mitteilung im Amtsblatt vom Samstag zufolge wird der erst vor knapp fünf Monaten ins Amt gehobene Naci Agbal durch Sahap Kavcioglu ersetzt, einem Ex-Banker, Ex-Abgeordneten der Regierungspartei und erklärten Gegner einer straffen Geldpolitik.
Der Rauswurf Agbals wirft ein Schlaglicht auf vorige Bemühungen, die Geldpolitik des Landes unabhängig erscheinen zu lassen. Damit scheint es nun vorbei. Konsumenten, Unternehmer und Investoren müssen sich auf niedrigere Leitzinsen, eine schwächere Lira und eine nachhaltig höhere Inflation einstellen. Das birgt viele Risiken, für deutsche Unternehmen vor Ort unter Umständen aber auch Chancen.
Agbal hatte in den wenigen Monaten seiner Amtszeit die Zinsen kräftig angehoben, zuletzt vor wenigen Tagen von 17 auf 19 Prozent. Begründet hatte er dies mit dem Kampf gegen die Inflation. Experten hatten ihn dafür gelobt. Erdogan hatte indes wiederholt zur Senkung der Zinsen aufgerufen.
Die türkische Lira hat mit scharfen Verlusten auf den Rauswurf des Zentralbankchefs reagiert. Am Montag fiel sie zum Dollar zeitweise um mehr als zehn Prozent 8,13 Lira ab. Die Landeswährung hat seit 2018 bereits die Hälfte ihres Werts zum Dollar verloren. Nach der Zinserhöhung vom Donnerstag hatte die Lira noch kräftig zugelegt, von rund 7,63 Lira pro Dollar auf 7,22 Lira.
Erst vor rund einer Woche hatte Erdogan erklärt, der Kampf gegen die Inflation gehöre zu seinen wichtigsten Vorhaben. Ziel sei eine einstellige Inflationsrate. Zurzeit liegt sie bei 15 Prozent. Erdogan hat zudem Wirtschaftsreformen angekündigt. So soll die Steuerpolitik vereinfacht werden, Produktivität, Investitionen, Beschäftigung und Exporte sollen steigen. „Wir werden das Wachstumspotenzial erhöhen“, verkündete Erdogan.
Unternehmen hatten von niedrigen Zinsen profitiert
Der Rauswurf Agbals wirkt daher erratisch. Kein leichter Job für seinen Nachfolger Sahap Kavcioglu. Der 54-Jährige ist Professor für Bankwirtschaftslehre an der Istanbuler Marmara-Universität. Bekannt geworden ist er allerdings durch seine Gastkommentare im AKP-Blättchen Yeni Safak.
Die konservativ-populistische Zeitung hat sich einen Namen damit gemacht, der Regierung nach dem Mund zu reden, egal bei welchem Thema. Nach der jüngsten Zinserhöhung titelte die Zeitung am Freitag, die Entscheidung sei „ignorant gegenüber 83 Millionen Menschen im Land“, würde das Wachstum abwürgen und stattdessen „vor allem Londoner Spekulanten dienen“.
Auch Kavcioglu hatte in einem Gastbeitrag in der Zeitung Agbals Zinspolitik kritisiert. „Die Zinsen rund um die Welt sind nahe null. Eine Anhebung in der Türkei zu erwägen wird unsere wirtschaftlichen Probleme nicht lösen.“
Experten sehen seinen Einstieg mit Sorge. „Das legt nahe, dass die Regierung versuchen wird, die Wirtschaft erneut mit niedrigen Zinsen stimulieren zu wollen“, sagte etwa Selva Demiralp, Wirtschaftsprofessorin an der Koc Universität in Istanbul, der Nachrichtenagentur Reuters. Das aber verstärke den Druck auf die Lira und könne die Wirtschaft noch mehr belasten.
Im vergangenen Jahr hatte Ex-Finanzminister Berat Albayrak noch alle Schleusen geöffnet, damit im Pandemiejahr die Wirtschaft nicht ins Stottern gerät. Experten von Goldman Sachs zufolge haben türkische Staatsbanken bis zu 100 Milliarden US-Dollar investiert, um den Kurs der Lira zu stärken. Das Geld ist weg, die Lira sackte trotzdem ab. Gleichzeitig gehört die Wirtschaft zu den wenigen weltweit, die 2020 ein Wachstum verzeichnet hatten.
Die laxe Geldpolitik der vergangenen Jahre, auch das muss gesagt werden, ist daran nicht unschuldig. Die Bauindustrie hatte von niedrigen Zinsen und einer wirtschaftsfreundlichen Pandemiepolitik profitiert, ebenso in Teilen die Autoindustrie. Das Joint Venture Ford Otosan mit seinem Werk nahe Istanbul etwa fertigt vor allem leichte Transportfahrzeuge wie den Ford Transit. Das Unternehmen hatte vor allem im vierten Quartal einen Exportrekord aufgestellt, dank einer erhöhten Nachfrage in Europa nach Fahrzeugen für Lieferdienste und Handwerker.
Die Tourismusbranche profitiert ebenfalls indirekt von niedrigen Leitzinsen. Wenn in der Folge nämlich die Lira an Wert verliert, wird der Urlaub in der Türkei für Besucher aus dem Euro- oder Dollar-Ausland günstiger. Das stärkt die Nachfrage. Gleichzeitig ändern sich die Kosten der Hoteliers für Personal und Lebensmittel kaum beziehungsweise werden der Inflation angepasst.
Firmenumsätze verzeichnen deutliches Plus
So kommt es auch, dass viele türkische Firmen im Pandemiejahr 2020 ihr Geschäftsergebnis vor Steuern und Abgaben (Ebit) steigern konnten. Ein Manager fasst es so zusammen: Sobald ein Unternehmen im vergangenen Jahr die Gewinnzone erreicht hatte, stieg der Gewinnhebel aufgrund der schwachen Währung enorm. Ein deutscher Mittelständler konnte dadurch den Vorjahresumsatz im Jahr 2020 um zwei Prozent steigern, während das Ebit um über 30 Prozent angestiegen war. Die Unternehmenseigner in Deutschland freuten sich.
Das gilt allerdings nur für Unternehmen, die beispielsweise in den Euro-Raum exportieren; und nur, solange die Inflation für Produzenten (PPI) geringer ausfällt als der tatsächliche Währungsverlust der Lira gegenüber dem Euro. Ein in der Türkei nicht unbekanntes Phänomen, das natürlich genauso gut nach hinten losgehen kann.
Und davor fürchtet sich Erdogan mehr als jeder andere Regierungschef. Wenn der türkische Wirtschaftsmotor einmal stottert, braucht es lange, um ihn wieder ans Laufen zu bringen. Der neue Notenbankchef muss jetzt das Kunststück hinbekommen, die Realwirtschaft mit geringen Zinsen anzulocken und gleichzeitig die Inflation zu drücken.

Er stand nur fünf Monate an der Spitze der türkischen Zentralbank.
Es gibt außerdem – wie immer in der Türkei – eine politische Dimension der Geschehnisse. Erdogan hatte den vorigen Notenbankchef Agbal am 7. November des vergangenen Jahres ernannt. Am selben Tag wurde Joe Biden in den USA offiziell zum Sieger der Präsidentschaftswahlen ernannt.
Die Regierung in Ankara war damals unsicher darüber, welche Auswirkungen der Machtwechsel im Weißen Haus auf die Türkei und den Nahen Osten haben könnte. Es drohten Sanktionen für Bankgeschäfte mit dem Iran ebenso wie für einen Waffendeal mit den Russen. Außerdem war Biden schon unter Barack Obama als Vizepräsident nicht gut auf Erdogan zu sprechen. Dieser ging daher auf Nummer sicher und ernannte mit Naci Agbal einen Notenbankchef, der in der Lage war, die Lira vor äußeren Einflüssen abzuschotten.
Inzwischen muss sich für Ankara andeuten, dass dies nicht mehr nötig ist. Die Sanktionsdrohung aus den USA steht zwar noch im Raum.
Doch gleichzeitig wird die Türkei auf Wunsch Bidens die Friedensgespräche zwischen der afghanischen Regierung und den radikal-islamischen Taliban im eigenen Land organisieren. Außerdem scheint der US-Präsident derzeit mit der geplanten Nord-Stream-2-Pipeline sowie der großen geopolitischen Auseinandersetzung mit China und Russland genug zu tun zu haben, um einen der wichtigsten Nato-Partner an der Südostflanke des Bündnisses zu verprellen.
Erdogan wiegt sich in relativer politischer Sicherheit. Das zeigt auch der abrupte Austritt aus der sogenannten Istanbul-Konvention, die sich gegen Gewalt an Frauen widmet. Damit will der türkische Staatspräsident seine konservativ-nationalistische Wählerbasis im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren konsolidieren. Ob der Druck auf die Geldpolitik dazu beträgt, wird sich noch zeigen. Klar ist: Erdogan wird sich von seinem Volk daran messen lassen müssen.
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