Gastkommentar: Aufsichtsräte müssen Unternehmen auch neue Impulse geben
Noch nie war die Rolle des Aufsichtsrats so spannend wie heute. Geopolitik, gestörte Lieferketten, die Energiewende sowie ein rasanter technologischer Wandel verstärken den Druck auf Unternehmen erheblich.
In der Aufsichtsratsarbeit geht es daher längst nicht mehr nur darum, in einer rein kontrollierenden Rolle zu verharren. Aufsichtsräte tragen auch Verantwortung dafür, das Unternehmen bei den großen Zukunftsfragen zu Künstlicher Intelligenz, Nachhaltigkeit und Transformation strategisch zu begleiten.
Gefordert sind daher Aufsichtsratspersönlichkeiten, die auch Impulse geben und Mehrwert schaffen können. Dabei ist das im Aktiengesetz verankerte dualistische System, das einerseits den Vorstand in der aktiven Unternehmensführung und andererseits den Aufsichtsrat in der Überwachungs- und Kontrollverantwortung sieht, kein Hindernis.
Es bietet vielmehr den grundsätzlichen Rahmen für die effiziente Aufsichtsratsarbeit. Innerhalb von Unternehmen gibt es keine andere zweite Instanz, die den Vorstand auf Augenhöhe hinterfragen oder herausfordern kann.
Das bedeutet zugleich, dass sich der Aufsichtsrat kontinuierlich weiterentwickeln muss, gerade auch mit Blick auf die eigenen rechtlichen Pflichten und Risiken: Denn scheitern Strategien und verlieren Unternehmen an Profitabilität, richtet sich der kritische Blick zunehmend auch auf den Aufsichtsrat.
Jeder zehnte Aufsichtsrat hält sein Gremium für nicht strategiefähig
Eine aktuelle Befragung von Aufsichtsräten der Wirtschaftskanzlei Hengeler Mueller gemeinsam mit dem Arbeitskreis deutscher Aufsichtsrat zeigt jedoch Defizite bei der Beschäftigung mit der Unternehmensstrategie.
In vielen Aufsichtsräten hat die Unternehmensstrategie zwar einen hohen Stellenwert und nimmt einen festen Platz auf der Agenda ein. Die Notwendigkeit, sich zu langfristigen Risiken bestmöglich aufzustellen, sehen 97 Prozent der Studienteilnehmer als hochrelevant an. Auch geopolitische Implikationen gehören mit 88 Prozent zu den Risikothemen, die ganz oben auf der Agenda der Aufsichtsräte stehen.
Gleichzeitig hält aber mehr als jeder zehnte der befragten Aufsichtsräte sein Gremium für nicht strategiefähig. Zudem halten nur 83 Prozent den Strategiedialog mit dem Vorstand für wichtig, obwohl er ex ante die Kontrolle und Mitgestaltung über die grundsätzlichen Weichenstellungen im Unternehmen ermöglicht.
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Lässt der gut gefüllte Aufsichtsratskalender genug Zeit für die Strategiediskussion? Bei einer knappen Mehrheit der Befragten ist die Strategie mehrfach jährlich ein eigener Tagesordnungspunkt auf der Aufsichtsratsagenda, bei 42 Prozent allerdings nur einmal jährlich.
Bei einer kleinen Gruppe von Aufsichtsräten, vier Prozent, steht die Strategie sogar nur alle paar Jahre auf der Agenda. Es ist fraglich, wie bei diesen Intervallen ein Verständnis für die Strategie des Unternehmens entwickelt und die Vorstandsarbeit sinnvoll überwacht und begleitet werden kann.
Fehlt es hier an einem durchdringenden Verständnis aufseiten des Aufsichtsrats oder auch einer Bereitschaft des Vorstands, etwaigen Informationsasymmetrien entgegenzuwirken, bleibt die Überwachung formalistisch und wenig effektiv.
Aufsicht ist heute mehr, als Fachwissen einzubringen
Nach den Voraussetzungen für eine aktive Strategiebegleitung durch den Aufsichtsrat befragt, nennen 99 Prozent der Studienteilnehmer die geeignete Zusammensetzung des Gremiums, dicht gefolgt von der Schaffung einer Vertrauenskultur (94 Prozent). Erst im Zusammenspiel von Expertise und vertrauensvollem Umgang kann konstruktiv diskutiert und kritisch hinterfragt werden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Aufsichtsrat kann und soll sich zunehmend strategischen Fragen widmen, dabei jedoch nicht den Blick auf das Dringliche verengen, sondern die Themen auch in größeren Zusammenhängen betrachten.
Zeitknappheit bleibt eine Realität, doch gerade sie eröffnet die Chance, Diskussionen stärker auf das Wesentliche zu fokussieren. Aufsicht bedeutet heute mehr, als Fachwissen einzubringen und die Tagesordnung abzuarbeiten. Das erwarten heute auch Investoren und Öffentlichkeit.
Erfolg oder Misserfolg entscheiden sich maßgeblich daran, ob das Gremium die Fähigkeiten besitzt, um den Wandel im Unternehmen ganzheitlich zu begleiten. Ohne eigenes strategisches Verständnis kann der Aufsichtsrat seine Kontrollpflicht gar nicht mehr sachgerecht erfüllen.
In Zeiten des Umbruchs braucht es Aufsichtsräte, die die richtigen – auch unbequeme – Fragen stellen, Prioritäten schärfen und das Management herausfordern, ohne sich an die Stelle des Vorstands zu setzen. Wirksame Aufsicht entsteht durch das richtige Maß von Kontrolle und Impuls.
Hier zeigt die Studie eine deutliche Diskrepanz: Während die strategische Bedeutung erkannt wird, scheint es in der Praxis noch an der notwendigen Umsetzungskraft und Dialogbereitschaft zu fehlen. Das sollte sich dringend ändern.
Die Autorin: Daniela Favoccia ist Partnerin bei Hengeler Mueller, Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex und Aufsichtsrätin bei Sartorius und bei Freudenberg.