Gastkommentar: Das aktuelle China-Bild ist so verzerrt, dass es gefährlich ist

Gastautor Liu Zhengrong war bis Ende 2022 Vorstand für Personal, Nachhaltigkeit und Greater China bei Beiersdorf. Aktuell hat er eine Auszeit genommen.
Indiens Premierminister Modi argumentiert, die heutige Weltordnung habe in ihren beiden Mandaten versagt: der Zusammenarbeit an globalen Herausforderungen und der Vermeidung von Kriegen. Als Folgen entfernten sich die Entwicklungsländer gerade immer weiter von den UN-Zielen der nachhaltigen Entwicklung. Er hat recht.
Der globale Süden ist zwar mehrheitlich gegen den russischen Angriffskrieg. Seine größte Sorge bleiben jedoch Nahrungsmittel- und Energiesicherheit sowie Infrastruktur und Bildung. Ist der Kampf von Demokratie gegen Autokratie wirklich die oberste Priorität der Welt? Braucht die Welt vorrangig eine zementierte Blockbildung oder stärkere Zusammenarbeit?
Gerade wegen der rapide zunehmenden Konfrontation zwischen den USA und China muss die internationale Gemeinschaft ein elementares Interesse daran haben, dass die multinationale Zusammenarbeit im Mittelpunkt der globalen Agenda steht. Nur so ist die größte Krise der Menschheit – der Klimawandel – vielleicht noch zu entschärfen.
Armut und Migration fallen ebenso in die Kategorie des Multilateralismus wie auch die Frage, wie künftige Kriege zu vermeiden statt wie sie zu führen sind. Vertrauen zwischen Staaten kann nur durch Zusammenarbeit entstehen, nicht durch gegenseitige Anschuldigungen und Sanktionen.
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Wir leben in einer Zeit, wo jede Interaktion mit China ein Aufreger ist, wo China das einzig verbleibende Politikfeld ist, bei dem die beiden Parteien in den USA gleicher Meinung sind und sich nur in der Härte gegenüber China überbieten. Gleichzeitig vollzieht Chinas Parteiführung Wendungen, die im Kontrast zu der Staatsphilosophie der Ära Deng Xiaoping stehen und die den Westen stark beunruhigen.
In dieser Zeit sollte Deutschland versuchen, wünschenswerterweise gemeinsam mit Frankreich, durch mehr Besonnenheit und Differenzierung die Rolle eines strategischen Vermittlers zu übernehmen. Eine mögliche kriegerische Auseinandersetzung zwischen China und den USA, über die so manche vermeintliche Strategen und Militärvertreter auf beiden Seiten immer offener und immer öfter schwadronieren, wäre eine Katastrophe für die ganze Welt.
Chinas Reformprozess hat seit 1978 Historisches geleistet
Besonnenheit beginnt mit der richtigen Einordnung von Fakten. Chinas Reformprozess seit 1978 hat Historisches geleistet. Mehr als eine Milliarde Menschen sind heute im chinesischen staatlichen Rentensystem.
Es ist übrigens nach deutschem Vorbild aufgebaut. Ja, das chinesische System ist „basic“, und die große Finanzierungslücke wird bald anrollen. Aber: Allein die flächendeckende Etablierung ist ein historischer Meilenstein, in einem Land, in dem Familie traditionell die einzige Absicherung war.
Mehr als 200 Millionen Familien haben Eigentumswohnungen – noch ein Novum in der langen Geschichte Chinas. Ja, das Eigentumsrecht ist aus westlicher Sicht begrenzt. Aber: Die Menschen, die eine kreditfinanzierte Wohnung besitzen, fühlen sich wie „echte“ Eigentümer. Das Recht auf eigenen Besitz, das wissen die Menschen im Westen am besten, hat gesellschaftlich und politisch eine tiefgreifende Bedeutung. Der UN Human Development Index (HDI) platziert China kontinuierlich vor Brasilien, Südafrika und Indien.
Wer heute solche Fakten aufzählt, kann schnell unter Beschuss kommen: Wie hoch ist der Preis für das Wachstum? Haben Sie die Menschenrechte vergessen? Was ist mit der militärischen Expansion?
Wenn eine einzige Gegenfrage hierzu erlaubt wäre, dann vielleicht diese: Kann man eine Alternative aufzeigen? Ein Land mit vergleichbarer Komplexität, gern nur halb so groß, welches im vergleichbaren Zeitraum eine annähernd oder gar bessere Entwicklung aufweisen konnte?
Das Wort Transformation – dessen inflationäre Nutzung eine Plage ist – trifft auf China voll zu. Eine Transformation mit 1,4 Milliarden Menschen braucht Zeit, und sie braucht von außen beides: Unterstützung im gegenseitigen Interesse und kritische Begleitung.
Viel Kritik an China hat Substanz. Sie ist nötig, genauso wie es eine Selbstverständlichkeit ist, sich für Werte einzusetzen, die uns wichtig sind. Offenlegung von Dissens ist essenziell für jede Partnerschaft.
Die deutsche Wirtschaft hat in China mehr verändert als die harsche Kritik von Politikern
Das gegenwärtige China-Bild ist jedoch so verzerrt, dass es gefährlich ist und es zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden könnte. Einseitigkeit führt immer zu Fehleinschätzung und verhindert eine ausgewogene Strategie, die im Umgang mit China dringend nötig ist.
Dass der Bundeskanzler im November trotz der aufgeheizten Stimmung nach China gereist ist, verdient nicht nur Unterstützung. Rückblickend müssen auch Kritiker zugeben, dass die Reise als solche und mit ihrem umstrittenen Timing richtig war.
Denn aus der festen Verankerung Deutschlands in der westlichen Wertegemeinschaft und zugleich als der erfolgreichste westliche Investor in China erwächst die große Verantwortung der Vermittlung. Wer vermitteln will, muss mit beiden Seiten offen und jederzeit reden können.
Die deutsche Wirtschaft könnte sich der China-Debatte selbstbewusster und aktiver stellen. Das Engagement deutscher Unternehmen in China hat weit mehr zur Öffnung Chinas beigetragen als manch lautstarker China-Kritiker. Letztere haben zwar das heimische Publikum zufrieden gestellt, konnten in China aber kaum etwas bewirken.
Die deutsche Wirtschaft hat durch ihr jahrzehntelanges Engagement entscheidend mit zur Entstehung einer weltoffeneren chinesischen Mittelschicht beigetragen. Diese Mittelschicht, je größer sie wird, macht eine komplette Umkehr des Öffnungskurses von China unmöglich – trotz gelegentlicher Rücksetzer.
Die deutschen Firmen müssten ihre China-Strategie zeitnah und umfassend überprüfen. Neben der Chancen-Risiken-Bewertung gilt es auch, die Vorbildrolle „der Deutschen“ in Bereichen wie Nachhaltigkeit und Menschenrechte mit neuen Ideen und mehr Mut zu festigen.
Eine Entkopplung dagegen wäre nicht nur ökonomisch ein Desaster für alle, sondern auch verheerend im Hinblick auf die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft. Und eine Tragödie für den Weltfrieden.
Der Autor:
Liu Zhengrong war bis Ende 2022 Vorstand für Personal, Nachhaltigkeit und Greater China bei Beiersdorf. Aktuell hat er eine Auszeit genommen.






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