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GastkommentarDeutschland muss zu einem Miteinander zurückfinden

Die Flüchtlingskrise, Corona, der russische Angriffskrieg, die Energiekrise und die Inflation haben das Land verändert, meint Joe Chialo. Statt Diskussion und Dialog herrschten zunehmend Gewalt und Hass. 16.10.2024 - 13:36 Uhr Artikel anhören
Der Autor Joe Chialo ist Senator für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt im Berliner Senat. Foto: Getty Images, Imago [M]

Auf die Frage „Wie geht’s dir, Deutschland?“ bin ich geneigt, stellvertretend für das Land zu antworten: „Danke, den Umständen entsprechend!“ Denn auch ich bin Deutschland: In der Hauptstadt des geteilten Landes, nämlich in Bonn, geboren, lebe ich nun in Berlin, der neuen Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands. Ich bin katholisch, habe eine Ausbildung gemacht und einige Semester Geschichte, Politik und Wirtschaftliche Staatswissenschaften studiert. Ich habe mich in der Musik ausgetobt und durfte mit einigen der größten Bands Deutschlands eng zusammenarbeiten. Ich bin Vater, und aktuell habe ich die Ehre, als Senator für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt meiner Stadt, meinem Land dienen zu dürfen.

Deutschland ist das Land mit der wohl größten individuellen Freiheit

In diesem Jahr feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Seitdem ist das Grundgesetz das Fundament unseres gesellschaftlichen Miteinanders – hierauf haben wir uns verständigt. Wir füllen mit unserem Handeln und Miteinander diese Paragrafen mit Leben. Das macht Deutschland zu einer stabilen Demokratie und dem Land mit der wohl größten individuellen Freiheit.

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„Alles gut!“ hätte ich ja dann stellvertretend für Deutschland auf die Frage antworten können. Das ginge aber leider an der Realität vorbei. Das Land, in dem wir leben, trug im vergangenen Jahrhundert die Verantwortung für zwei Weltkriege, die Millionen Tote und zahlreiche Opfer gefordert haben. Das Land, in dem wir leben, war verantwortlich für das singuläre Menschheitsverbrechen, die Shoah, die systematische Ermordung der europäischen Juden. Das 1949 in Kraft gesetzte Grundgesetz zog aus all dem Lehren, bereitete, so gut es ging, den Boden für ein „Nie wieder!“ und schrieb uns Verantwortung in die Bücher unserer Leben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dürfte ich nur einen Satz schreiben, würde ich diesen wählen.

Aber gerade dieser Satz, der sich aus der Verantwortung gegenüber unserer Geschichte speist, gerät unter Druck – und mit ihm wir alle, die nach ihm leben. Dass Angela Merkel als Bundeskanzlerin im Jahr 2015 und 2016 die Grenzen nicht schloss, habe ich immer als einen Akt christlicher Nächstenliebe gegenüber Menschen in bitterer Not begriffen.

Aufrufe, dass Demokratie täglich neu verteidigt werden muss, drohen zu Phrasen zu verkommen

Zugleich offenbaren große Krisen auch immer Schwächen im eigenen System. Die Auswirkungen dieser Entscheidung, die mit Aufnahme und Integration von Geflüchteten verbunden sind, beschäftigen uns bis heute und haben gesellschaftlich zu großen Verwerfungen geführt. Dies hat zum Erstarken von Parteien an den Rändern unserer Gesellschaft und zur Schwächung der politischen Mitte geführt.

Es folgten die Coronakrise und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sowie die Energiekrise und die Inflation. Eine regelrechte Krisenspirale lösten Hetze, Hass und Gewalt aus – erst im Netz, dann auf unseren Straßen. Hanau und Lübcke, Synonyme für Entgrenzung im Umgang miteinander. Das Ende von Diskussion und Dialog. Nichts davon war als Warnsignal deutlich genug, nichts zwang uns als Gesellschaft zur Einkehr. Stattdessen eilt eine Partei, deren Geschäftsmodell Ausgrenzung, die Forderung nach millionenfacher Abschiebung und Spaltung ist, von einem Wahlerfolg zum nächsten.

Ein wirksames Kraut ist dagegen noch nicht gefunden – außer den wichtigen und richtigen Verweisen auf die Lehren aus unserer Vergangenheit. Demokratiekonferenzen, Einladungen zum Dialog und die Aufrufe, dass Demokratie täglich neu verteidigt und errungen werden müsse – sie drohen zu leeren Phrasen zu verkommen und helfen kaum.

Nach dem 7. Oktober 2023 mit dem brutalen Massaker der Hamas und der höchsten jüdischen Opferzahl seit dem Holocaust ist noch einmal alles anders. Verstörende Bilder von Freudenfesten auf der Berliner Sonnenallee entsetzten mich.

Wir müssen auf den guten Boden des Miteinanders zurückfinden. Dann wird es Deutschland auch wieder besser gehen.
Joe Chialo

Es geht angesichts des Sterbens im Nahen Osten nicht um Argumente – es geht um Hass. Propalästinensische Aktivisten und radikale Linke betreiben eine Täter-Opfer-Umkehr. Sie tragen den Konflikt in unser Land und überschreiten jede Grenze. Wer nicht uneingeschränkt für sie ist, ist gegen sie. Ja, gegen sie sollte jeder sein, der aus dem von Deutschland begangenen Menschheitsverbrechen eine besondere Verantwortung und den Schutz für Menschen mit jüdischem Glauben ableitet.

Ich stehe zu dieser Verantwortung. Und viele mit mir. So arbeiten wir in Berlin an einer Demokratieklausel, die diejenigen, die Artikel 1 unseres Grundgesetzes verneinen, von der Förderung durch Steuergelder ausschließt. Unsere Demokratie verteidigen heißt, die Würde des Menschen zu verteidigen – gegen Rassisten, Antisemiten, gegen Homophobie, Behindertenfeindlichkeit und vieles mehr. Es ist ein Signal. Ein Aufruf an alle, die Umstände zu ändern und zurückzufinden auf den guten Boden des Miteinanders. Dann wird es Deutschland auch wieder besser gehen.

Der Autor:
Joe Chialo ist Senator für Kultur und gesellschaftlichen Zusammenhalt im Berliner Senat.

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