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UkraineKeine Zeitenwende – nirgendwo!

Das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Reformen ist der Bundesregierung abhandengekommen, kritisieren Claudia Major und Jana Puglierin. Ein Gastbeitrag. 11.10.2024 - 04:00 Uhr Artikel anhören
Die Autorinnen: Claudia Major (l.) ist Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Jana Puglierin ist Leiterin des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin. Foto: Getty Images, Imago [M]

Anfangs revolutionär, dann zunehmend evolutionär und nun vor allem defizitär – so lässt sich eine Bestandsaufnahme der Außen- und Sicherheitspolitik der Ampelkoalition drei Jahre nach Amtsantritt und knapp ein Jahr vor der Bundestagswahl zusammenfassen.

Auf die fulminante Zeitenwende-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 folgte eine Reihe an Entscheidungen, die gemessen an dem, wo Deutschland vor dem russischen Angriffskrieg stand, einer Revolution gleichkamen. Dazu gehören die Waffenlieferungen an die Ukraine und die permanente Stationierung einer deutschen Brigade in Litauen genauso wie die Entscheidung, die Energieabhängigkeit von Russland zu beenden.

Die Zeitenwende wurde zu einem Projekt unter vielen, das unbemerkt umgesetzt werden sollte

Doch je länger der Krieg gegen die Ukraine andauerte, ohne dass Russland in größerem Maße weiteres Territorium erobern konnte, desto stärker schwand in Berlin das Bewusstsein für die Dringlichkeit der Reformen – oder sogar für deren Notwendigkeit. Die Zeitenwende wurde zu einem Projekt unter vielen, das möglichst unbemerkt vom Bürger und ohne größere Einbußen umgesetzt werden sollte. Irgendwie Wandel, aber es sollte nichts kosten und nicht wehtun.

Spätestens seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Nachtragshaushalt im November 2023, an dem die Ampel fast zerbrach, übt sich die Koalition primär in der Nabelschau. Die Beilegung immer neuer Streitigkeiten innerhalb der Ampel und die Suche nach Antworten auf die Wahlerfolge von AfD und BSW scheinen seitdem alle Ressourcen zu binden. Aus Revolution wurde Stagnation.

Scholz hatte in seiner Zeitenwende-Rede eine „leistungsfähige, hochmoderne, fortschrittliche Bundeswehr“ angekündigt, die Deutschland und das Nato-Bündnisgebiet zuverlässig schützt. Doch zu einer signifikanten Erhöhung des regulären Verteidigungshaushalts, die die Transformation der Bundeswehr zur schlagkräftigen Armee erst nachhaltig machen würde, konnte sich die Regierung bei den Haushaltsverhandlungen bis jetzt nicht durchringen.

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Die Erhöhung der Verteidigungsausgaben speist sich aus dem Sondervermögen, das 2028 ausgegeben sein wird. Wie oder ob die sicherheitspolitische Zeitenwende dann weiter finanziert werden soll, ist unklar. Viele in der Bundeswehr befürchten mittlerweile, dass die Zeitenwende schon wieder abgesagt wurde, bevor sie bei der Truppe überhaupt ankommen konnte.

In Brüssel herrscht der Eindruck, Deutschland betreibe oftmals eine „Germany first“-Politik

Besonders mit Blick auf die Chinapolitik scheinen im Kanzleramt alte Muster weiter handlungsleitend zu sein. Obwohl das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz darauf drängen, Abhängigkeiten von Peking schneller zu reduzieren, erinnern Scholz‘ Unterstützung für die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco am Hamburger Containerterminal Tollerort sowie sein „Nein“ gegen die Strafzölle für chinesische Elektroautos fatal an die Politik seiner Vorgängerin Angela Merkel. Man fragt sich: Gibt es nicht seit Juni 2023 eine China-Strategie der Bundesregierung, die die systemische Rivalität mit Peking sehr hellsichtig beschreibt?

Berlins Widerstand gegen die Strafzölle hat jedenfalls die Europäische Kommission sowie Deutschlands engste Partner in der Europäischen Union (EU) düpiert und das verheerende Signal gesendet, dass die deutsche Autoindustrie und die Beziehungen zu Peking wichtiger sind als die europäische Einheit und die transatlantischen Beziehungen.

Nicht nur nach dieser Entscheidung schauen Deutschlands europäische Partner inzwischen frustriert, ratlos und zunehmend genervt auf Berlin. Sie vermissen eine europäische Dimension der Zeitenwende, Initiativen, ja Führung aus Berlin, wie sich Europa in der globalen Unordnung aufstellen sollte. In Brüssel herrscht der Eindruck, Deutschland betreibe an vielen Stellen eine „Germany first“-Politik, die darauf ausgerichtet ist, Brüsseler Initiativen zu blockieren – von der verzögerten Verabschiedung des 14. russischen Sanktionspakets bis zur reflexhaften Ablehnung des Draghi-Reports.

Berlin gilt nicht länger als der Stabilitätsanker, der Europa in der Krise zusammenhält, sondern als Hemmschuh.
Claudia Major und Jana Puglierin

Berlin gilt nicht länger als der Stabilitätsanker, der Europa in der Krise zusammenhält, sondern als Hemmschuh – vor allem mit Blick auf die Verhandlungen zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen.

Es wäre fatal, wenn Deutschland bei dem Versuch, sich außenpolitisch neu aufzustellen und eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen, erneut hinter den Hoffnungen seiner Partner und eigenen Ambitionen zurückbliebe. Die Zeitenwende-Politik der Bundesregierung mag stagnieren. Aber die internationalen Umbrüche, die Deutschland und Europa in einem präzedenzlosen Maße herausfordern, haben gerade erst begonnen. Allein und unter Rückgriff auf eine aus der Zeit gefallene Status-quo-Politik wird Berlin diese Herausforderungen nicht meistern können.

Verwandte Themen
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Die Autorinnen:
Claudia Major ist Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.
Jana Puglierin ist Leiterin des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin.

Neue Gastbeitrag-Serie

„Wie geht's dir, Deutschland?“ Die missmutige Antwort der „German Angst“ darauf ist am Tag der Deutschen Einheit schnell gegeben. Trotzdem darf uns die Zuversicht nicht abhandenkommen. Die Klage ist eben nicht des Kaufmanns Lied, wie Kanzler Olaf Scholz spottet.

Das Handelsblatt hat deshalb acht Frauen und Männer aus der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gebeten, dem Land den Puls zu fühlen und aufzuschreiben, wie wir die Zukunft meistern können.

Lesen Sie die Serie, bestehend aus acht Gastbeiträgen, täglich vom 3. bis 15. Oktober.

Mehr: Top-Ökonom aus den USA – „Am Ende wird Deutschland gewinnen.“

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