Prüfers Kolumne: Der Geist, der nie verneint

Tillmann Prüfer ist Mitglied der Chefredaktion des „Zeit-Magazins“.
Offenbar ist es ein Problem vieler Arbeitnehmer, nicht richtig „Nein“ sagen zu können. Sie können keine Grenzen ziehen und nehmen deshalb jeden Auftrag an. Sie lassen sich auch leicht von Kollegen ausbeuten und sind deswegen schnell erschöpft.
Es gibt zum Glück eine Menge Hilfestellungen. Etliche Coaches haben sich darauf spezialisiert, Arbeitnehmern und vor allem Arbeitnehmerinnen zu helfen, Arbeit abzulehnen. Die Neinsagen-Trainerin Magdalena Rehm etwa bietet im Internet einen Test an, mit dem man feststellen kann, wie schwer einem die Abgrenzung fällt.
„Hast du Schuldgefühle, wenn du jemandem einen Wunsch oder eine Bitte abschlägst?“, wird gefragt, oder: „Spürst du den Schmerz und das Leid anderer Menschen sehr deutlich emotional oder körperlich?“
Man muss sich nicht vors Schienbein treten lassen – oder?
Es geht auch um das Selbst: „Ist dein Selbstwert davon abhängig, wie Menschen dich behandeln?“, „Wenn deine Mutter kurzfristig vorbeikommen möchte, du aber eigentlich andere Pläne hast, fällt es dir schwer, ihr abzusagen?“ Auch gewalttätiger Nachwuchs wird behandelt: „Das 7-jährige Kind deiner Freundin hat dir jetzt schon zum wiederholten Mal gegen das Schienbein gekickt. Kostet es dich große Überwindung, dem Kind in deutlichen Worten zu sagen, dass es das lassen soll?“
Ich habe leider erst zu spät gemerkt, dass sich das Angebot der Grenzenziehen-Coachin nur an zu empowernde Frauen richtet, denn schnell hatte ich selbst bei dem Test auch etliche Punkte zusammen, bei denen ich nicht mit „Nein“ geantwortet hätte. Offenbar bin auch ich so ein „Jasager“. Meine Diagnose bei dem Test hätte gelautet: „Du bist in vielen Alltagssituationen damit überfordert, Grenzen zu setzen, und tust dich schwer, deine Lebenskraft vor Energieräubern zu schützen.“
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Ja natürlich, ich bin von Energieräubern umgeben. Ständig will jemand etwas von mir. Ich wäre gern anders. Ich bewundere diese Art von Kollegen, bei denen man glaubt, dass sie Unmengen von Energie haben müssen und diese irgendwo horten wie Dagobert Duck seinen Taler im Geldspeicher. Denn diese Kollegen geben nichts von ihrer Energie ab.
Wenn man etwas von diesen Leuten möchte, bekommt man nur eine E-Mail zurück, warum sie im Prinzip alles gern machen würden, aber leider, leider überhaupt keine Zeit dafür haben, deswegen ausnahmsweise mal: „Nein“.
Auch Nein-Sager sind ständig überfordert
Man erfährt aber auch nicht, was diese Kollegen denn stattdessen machen. Zählen sie den ganzen Tag ihre Energiereserven? Das kann eigentlich auch nicht sein. Denn jene Kollegen tun nichts lieber, als darüber zu klagen, dass sie ständig überfordert sind, einfach viel zu tun haben.

Die Leute, die ständig Aufgaben ablehnen, sind offenbar genauso fertig wie jene, die immer „Ja“ sagen. Ich würde gern mal wissen, wie all diese Menschen aussehen, die von den Abgrenzungs-Coaches gepriesen werden und supersouverän Grenzen ziehen. Die in sich ruhen, dabei auch noch im Gleichgewicht mit der Welt.
Aber vielleicht weiß ich es auch besser nicht. Wenn ich so jemandem begegnen würde, würde er mich wahrscheinlich sofort fragen, ob ich was für ihn erledigen könnte. Und ich würde „Ja“ sagen.
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