Gastkommentar Global Challenges: Was hinter Deutschlands neuer Indien-Strategie steckt

Die Bundesregierung ist in vielem notorisch zerstritten, doch bei einem Thema ziehen alle an einem Strang: der Vertiefung der Beziehung zu Indien. An diesem Freitag nimmt Bundeskanzler Olaf Scholz mit sieben Ministern an den deutsch-indischen Regierungskonsultationen in Neu-Delhi teil.
Gemeinsam mit Premierminister Narendra Modi eröffnet er zudem die Asien-Pazifik-Konferenz der Deutschen Wirtschaft, die dieses Jahr in Neu-Delhi stattfindet. Pünktlich dazu hat das Bundeskabinett unter dem Titel „Fokus auf Indien“ ein Grundsatzdokument zur weiteren Ausgestaltung der „strategischen Partnerschaft“ beschlossen.
Das Bemerkenswerte an dieser ersten umfassenden Indienstrategie ist weniger der Fokus auf Wirtschaft, Technologie und Nachhaltigkeit. Indien ist die am stärksten wachsende G20-Wirtschaft. Das Potenzial liegt auf der Hand: Heute umfasst der Handel mit Indien nur ein Zehntel des Handels mit China. Und dass wir die Klimakrise nicht ohne das bevölkerungsreichste Land erfolgreich angehen können, ist ebenfalls sonnenklar.
Neu aber ist die Betonung Indiens als Sicherheitspartner – „sowohl im kontinuierlichen Bemühen um strategische Konvergenz zu zentralen außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen als auch durch praktische Zusammenarbeit unserer Streitkräfte sowie eine verlässliche Rüstungszusammenarbeit“, wie es in dem Dokument heißt.
Es ist höchste Zeit zu korrigieren, dass in der deutschen Diskussion Indien sicherheitspolitisch bislang kaum eine Rolle spielt. Ein Gleichgewicht im Indo-Pazifik – der weltpolitisch entscheidenden Region der kommenden Jahrzehnte – und ein Verhindern chinesischer Hegemonie ist nur mit einem starken Indien möglich.
Indiens Militär ist auf russische Rüstungsgüter angewiesen
Doch aktuell ist das indische Militär zum einen zu schwach, um ein kraftvolles Gegengewicht zu China zu bilden. Zudem ist es aus historischen Gründen zu weit über 50 Prozent auf russische Rüstungsgüter angewiesen. Es ist im deutschen und europäischen Interesse, diese Abhängigkeit von Russland verringern zu helfen.
Deshalb ist es richtig, dass sich die Bundesregierung darauf verständigt hat, Hindernisse bei Rüstungsexporten massiv abzubauen und eine stärkere Zusammenarbeit deutscher und indischer Rüstungsunternehmen zu fördern.
Indien sucht Kooperationen angesichts der Bedrohung aus China
Zugleich ist es das richtige Signal, dass die Luftwaffe im August das erste Mal mit der indischen Luftwaffe zusammen auf indischem Boden trainiert hat. Die Marine führt diesen Monat außerdem im Rahmen des „Indo Pacific Deployment 2024“ gemeinsame Übungen mit der indischen Marine durch, inklusive eines Hafenbesuchs der Fregatte „Baden-Württemberg“ in Goa.
Dabei ist ein klarer Blick auf Chancen und Grenzen der „strategischen Konvergenz“ mit Indien nötig. Pekings massive Aggression gegenüber Indien in der Grenzregion am 15. Juni 2020, bei der 20 indische Soldaten starben, läutete Neu-Delhis Zeitenwende im Sinne einer weit kritischeren Chinapolitik ein. Modi hatte in den Jahren zuvor stark in die Beziehungen zu Chinas Staats- und Parteichef Xi investiert.
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Im Lichte der Bedrohung durch ein aggressives China entschloss sich Indiens Regierung zu einem massiven Ausbau der militärischen und technologischen Zusammenarbeit mit den USA – auch im Rahmen des „Quad“, dem quadrilateralen Sicherheitsdialog zwischen Australien, Indien, Japan und den Vereinigten Staaten.
Der Dialog mit Neu-Delhi muss auf allen Ebenen erfolgen
Gerade im Bereich der Wirtschaftssicherheit ist noch viel zu tun: Indien kann nur einen Beitrag zum deutschen und europäischen Derisking von China leisten, wenn es selbst weniger abhängig wird von Lieferketten, die durch die chinesische Volksrepublik verlaufen.
Gerade weil sich Neu-Delhi vor einem aggressiven Peking fürchtet, wird es an seinen engen Beziehungen zu Moskau festhalten. Eine gegen Indien gerichtete chinesisch-russische Allianz ist Neu-Delhis Albtraum. Im Rahmen seiner „Multi Alignment“-Außenpolitik wird Indien weiter an Formaten wie BRICS festhalten, wie Modis Besuch beim BRICS-Gipfel in Kasan diese Woche unterstreicht.
Anschuldigungen über Morde und Mordversuche an Khalistan-Separatisten in Kanada und den USA mit stümperhafter Beteiligung des indischen Geheimdienstes werfen aber Fragen auf, welche Art von Großmacht Indien sein möchte.
Umso wichtiger ist eine Intensivierung des Dialogs mit Indien auch jenseits der Regierungsebene, gemeinsam mit anderen Partnern aus dem Indo-Pazifik. Öffentliche Hand, Stiftungen und Wirtschaft müssen massiv in den Ausbau der Indienkompetenz investieren.




Der Autor:
Thorsten Benner ist Direktor des Global Public Policy Institute (GPPi) und ist aktuell in Indien als Teilnehmer des „Global Dialogue Program“ der Bosch-Stiftung.
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