Asia Techonomics: Überschuldung, Unfälle, Suizid: Die Erfolge von Asiens Tech-Konzernen haben eine dunkle Seite

In der wöchentlichen Kolumne schreiben Handelsblatt-Korrespondenten im Wechsel über Innovations- und Wirtschaftstrends in Asien.
Bis zum Interviewtermin habe ich noch eine Stunde, aber die Straßen sind heillos überfüllt. Der Treffpunkt im Geschäftsviertel von Jakarta ist nur sieben Kilometer von meinem Hotel entfernt. Dennoch erklärt mir die Verkehrsprognose auf Google Maps, dass ich ziemlich sicher zu spät kommen werde, wenn ich jetzt in ein Taxi steige.
Zum Glück gibt es in der indonesischen Hauptstadt einen Ausweg aus der Verkehrsmisere. Zehntausende Helfer stehen rund um die Uhr bereit, um Menschen wie mich doch noch irgendwie pünktlich ans Ziel zu befördern. Sie tragen Helme und Jacken in den grellen Farben der Start-ups, für die sie arbeiten, und schlängeln sich mit ihren Mopeds unaufhaltsam durch die Staus der Megacity. Nach der Bestellung per App dauert es nicht einmal zwei Minuten, bis einer der Fahrer vor meiner Hotellobby steht und mich auf dem Sozius zwischen den feststeckenden Autos zu meinem Meeting manövriert.
Der Retter meines Terminplans ist Teil einer riesigen Zweiradflotte, die asiatische Tech-Unternehmen wie Grab und GoTo in ihren Super-Apps zusammengestellt haben. Sie ist innerhalb weniger Jahre zu einem unverzichtbaren Teil der urbanen Infrastruktur geworden. Doch die Arbeitsbedingungen in der Branche sind höchst umstritten. Mehrere tragische Vorfälle in den vergangenen Wochen stellen Kunden und Investoren abermals vor die Frage, auf wessen Kosten das Geschäftsmodell eigentlich geht.
Die Mopedfahrer der populären Apps befördern nicht nur Passagiere in Terminnot und liefern Essen aus: Sie sind auch elementar für E-Commerce-Angebote, die die Zustellung von Produkten innerhalb weniger Stunden versprechen. Die App-Betreiber sind mit ihrer Omnipräsenz zu den wertvollsten Unternehmen der Region aufgestiegen: GoTo ist an der Börse in Jakarta derzeit knapp 18 Milliarden Dollar wert, das aus Singapur stammende Grab immerhin mehr als zehn Milliarden Dollar.
Vier Millionen Mopedfahrer arbeiten für indonesische Taxi-Apps
Inzwischen dürfte es kaum noch eine größere Stadt in Asien geben, in der die beiden Super-Apps oder ihre lokalen Pendants – wie etwa Ola in Indien – nicht vertreten sind. In Indonesien ist ihre Präsenz besonders groß: Die Nachfrage nach alternativen Mobilitätslösungen ist wegen der chronisch überlasteten Straßen und eines schlecht ausgebauten öffentlichen Nahverkehrs enorm. Branchenvertretern zufolge sind landesweit rund vier Millionen Mopedfahrer für Taxi-Apps und E-Commerce-Unternehmen im Einsatz.

Unrealistische Zielvorgaben führten zu durchschnittlichen Arbeitszeiten von zehn bis 15 Stunden am Tag.
Während Indonesien eindrucksvoll das Potenzial der sogenannten Gig-Economy zeigt, führt das Land aber leider auch die massiven Probleme dieses Teils der Internetwirtschaft vor Augen. Lokale Medien berichteten zuletzt mehrfach von Suiziden unter den Gig-Arbeitern, die mit dem hohen wirtschaftlichen Druck in Verbindung gebracht wurden, unter dem die Betroffenen offenbar standen. Zum Teil wurden die Verstorbenen in der Uniform der Tech-Konzerne aufgefunden, für die sie arbeiteten – oder hatten noch das Smartphone in der Hand, mit dem sie bis zuletzt ihre Lieferaufträge entgegengenommen hatten.
Indonesische Arbeitsmarktforscher dokumentierten in einem Ende September veröffentlichten Beitrag für die Fachpublikation „Asian Labour Review“ 14 Suizidfälle unter App-Fahrern. „Für indonesische Verhältnisse ist diese Zahl sehr hoch“, schreiben sie, „und vermutlich gibt es noch mehr Fälle in der Branche, über die nie berichtet wurde.“
Rund 100 tödliche Unfälle
Die Forscher sehen die Suizide als extremste Folgen eines prekären Beschäftigungsmodells. Die Plattformbetreiber würden ihre Fahrer regelmäßig mit einseitigen Änderungen der Vergütungsmodelle konfrontieren. Unrealistische Zielvorgaben führten zu durchschnittlichen Arbeitszeiten von zehn bis 15 Stunden am Tag, für die Monatslöhne von nur 200 Dollar nicht unüblich seien.
Die Arbeit über viele Stunden ohne Ruhepause ist auch gefährlich: Rund 100 tödliche Unfälle von Fahrern der Transport-Apps wurden in den vergangenen Jahren in indonesischen Medien dokumentiert. Gleichzeitig beklagen die Arbeitsforscher eine Schuldenfalle: So geben die Fintech-Töchter der Taxi- und Lieferapps ihren schlecht bezahlten Fahrern Kredite, um über die Runden zu kommen – Probleme bei der Rückzahlung vergrößerten die finanzielle Misere zusätzlich.
Für eine Lösung der Missstände sind moderne Arbeitsschutzvorgaben nötig, denen sich Plattformbetreiber nicht einfach entziehen können, indem sie ihre Fahrer als freiberufliche Partner deklarieren. Auch bei den Geldgebern, die unter anderem in New York gelistete Aktien der asiatischen Taxi-Apps in der Hoffnung auf hohe Gewinne gekauft haben, ist ein größeres Problembewusstsein nötig.
Wer Kleidung aus Bangladesch zu Dumpingpreisen kauft, weiß, dass die Ausbeutung von Näherinnen der Preis dafür ist. Auch Tech-Investoren muss klar sein, dass die Gig-Economy nicht nachhaltig sein kann, wenn die Dienstleister mit Hungerlöhnen abgespeist werden.
Für die halbstündige Fahrt zu meinem Termin berechnete mir die Taxi-App weniger als zwei Dollar. Für Kunden, die ausbeuterische Arbeitsbedingungen nicht hinnehmen wollen, bietet die Branche aber immerhin einen Vorteil: Mit einem großzügigen Trinkgeld lässt sich ohne Umwege zumindest ein wenig Abhilfe schaffen.



In der Kolumne Asia Techonomics schreiben Nicole Bastian, Dana Heide, Martin Kölling, Mathias Peer und Stephan Scheuer im Wechsel über Innovations- und Wirtschaftstrends in der dynamischsten Region der Welt.
Mehr: 18 Prozent Plus seit Jahresbeginn: Wo in Asien Kursgewinne für ETF-Anleger möglich sind





