Der Chefökonom: Öffentliche Investitionen sind kein Selbstzweck

Düsseldorf. Kein Superlativ schien groß genug: ein historischer Moment, ein großer Schritt für den Wiederaufbau. Gemeint war nicht das neue 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen zur Modernisierung der deutschen Infrastruktur, sondern der doppelt so große „Corona-Wiederaufbaufonds“ der EU, den die Staats- und Regierungschefs im Sommer 2020 beschlossen hatten.
Heute, fünf Jahre später, ist die Bilanz dieses Projekts ernüchternd: Lediglich 57 Prozent der nicht zurückzahlbaren (!) Zuschüsse wurden bislang von den Mitgliedstaaten abgerufen und gerade einmal 38 Prozent des ausgelegten Kreditvolumens. Kurzum: Wirklich begehrt war das Geld aus Brüssel nicht. Eigentlich sollte mit diesen Milliarden die Wirtschaft der EU-Mitgliedstaaten nach dem ersten Pandemieschock stimuliert und modernisiert werden.
Es kam anders. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in der gesamten EU entwickelte sich in den vergangenen Jahren zwar etwas besser als Deutschlands wirtschaftliche Gesamtleistung – doch von einer echten Revitalisierung kann keine Rede sein, wie der „Draghi-Report“ 2024 zeigte. Seit der Finanzkrise verliert Europa gegenüber den USA jedes Jahr rund 0,5 bis 0,7 Prozent Pro-Kopf-BIP. Die Lehre: Verfügbare Mittel sind eine notwendige Voraussetzung für eine Modernisierung von Volkswirtschaften, aber eben keine hinreichende.
Droht dem 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen ein ähnliches Problem?
Die Fakten: In den kommenden zwölf Jahren will der Bund mit dem Einsatz von 500 Milliarden Euro zusätzlichen Schulden Deutschlands Infrastruktur modernisieren. Von diesem Betrag sollen die Bundesländer 100 Milliarden Euro erhalten, bei denen – laut Gesetzentwurf – insbesondere im Bereich der Bildung, der Energie- und Verkehrsinfrastruktur, bei Krankenhäusern, der Digitalisierung und dem Bevölkerungsschutz ein hoher Investitionsbedarf bestehe.
Nun sind 500 Milliarden Euro zweifellos ein stattlicher Betrag, der etwa den Steuereinnahmen von sechs Monaten oder 6000 Euro je Einwohner entspricht. Weniger eindrucksvoll wirkt die Zahl, wenn man sie auf den Zeitraum von zwölf Jahren verteilt. Aus dieser Perspektive erlauben es diese neuen Schulden, die gesamtwirtschaftlichen Investitionen um knapp fünf Prozent zu erhöhen. Und dies gilt auch nur dann, wenn diese Mittel nicht für Staatskonsum zweckentfremdet, sondern wirklich zur Finanzierung von zusätzlichen Projekten eingesetzt werden – und wenn sie nicht preistreibend wirken und damit private Investitionen verdrängen.
Das sind viele Fragezeichen. Die Finanzlage der Gemeinden, die für rund ein Drittel der gesamten staatlichen Investitionen und einen Großteil der öffentlichen Baumaßnahmen verantwortlich sind, ist prekär. Ihr Defizit belief sich im zurückliegenden Jahr auf 25 Milliarden Euro – als Folge markant gestiegener Sozial-, Personal- und Zinsausgaben. In welchem Umfang und zu welchen Bedingungen die Bundesländer ihre neuen Investitionsmittel an die Gemeinden weiterreichen, entscheiden sie weitgehend selbst.
Investitionen des Bundes scheiterten in der Vergangenheit selten am Geld; regelmäßig werden im Haushalt bereitgestellte Investitionsmittel nicht abgerufen: im vergangenen Jahr gut 14 Milliarden Euro, 2023 mehr als sechs Milliarden und 2022 mehr als fünf Milliarden Euro.
Neben bewilligten Geldern braucht es für die Realisierung neuer Projekte vor allem Personal: Bauingenieure, die diese planen, Beamte, die sie genehmigen und vergeben, Richter, die Klagen überprüfen, und schließlich Bauarbeiter, die diese Projekte realisieren. Dies alles beansprucht Zeit. In Hessen wurde dieses Frühjahr die A49 eröffnet, mehr als 50 Jahre nach Planungsbeginn und bei entsprechender Kostenexplosion – kurzum: Geld für öffentliche Investitionen ist kein Selbstzweck, mehr heißt nicht unbedingt auch besser.
Ausgeprägte Wachstumsschwäche
Sicher, Modernisierung und Ausbau der Infrastruktur sind dringend notwendig, um die Volkswirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Wunder erwarten sollte man von zusätzlichen Investitionen jedoch nicht.
Die deutsche Volkswirtschaft steckt in der längsten Wachstumsschwäche der Nachkriegszeit, nicht zuletzt, weil das exportorientierte Geschäftsmodell ins Wanken geraten ist. Die in der Vergangenheit dynamisch wachsende Autoindustrie steht vor erheblichen strukturellen Problemen.
Qualifizierte Arbeitskräfte werden mit hohen Abfindungen zum Ausscheiden motiviert, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass in den Chefetagen der Glaube an die Zukunft des Standorts Deutschland beschädigt worden ist. Die Chemieindustrie leidet unter den hohen Energiekosten, und der Bauwirtschaft machten zuletzt die rasant gestiegenen Zinsen und Materialkosten zu schaffen.

Darüber hinaus klagen viele Unternehmen über rasch wachsende bürokratische Auflagen und komplexe Genehmigungsverfahren. Der demografisch bedingte Fachkräftemangel tat ein Übriges. Kurzum: Die gesamtwirtschaftliche Leistung stagniert seit mehr als fünf Jahren, das Trendwachstum liegt nur noch bei um 0,3 Prozent pro Jahr.
Unternehmen investieren dort, wo sie gute Absatz- und Gewinnchancen sehen, sprich: wo die erwartete Nach-Steuer-Rendite am höchsten ist. Dies war in der Vergangenheit zunehmend seltener in Deutschland der Fall. In realen Werten gerechnet wurde im vergangenen Jahr weniger investiert als 2017. Die realen Bauinvestitionen waren vergangenes Jahr um 13 Prozent niedriger als im Rekordjahr 2020, die Ausrüstungsinvestitionen lagen elf Prozent unter dem Rekordniveau von 2019.
„Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“
Eine intakte Infrastruktur kann eine Basis für private Investitionen bilden, ein gutes Bildungssystem garantiert, dass qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, und ein austariertes Steuer- und Transfersystem sollte sicherstellen, dass Arbeitsanreize erhalten bleiben.
Fast ebenso wichtig ist freilich die Stimmung unter potenziellen Investoren; Ludwig Erhard wird das Bonmot „Wirtschaft ist zu 50 Prozent Psychologie“ zugeschrieben. Und obwohl sich weder die geopolitischen noch die gesamtwirtschaftlichen Perspektiven in den vergangenen Wochen zum Besseren gewandelt haben, hat die neue Regierung einen Stimmungsumschwung bewirkt: Konsum- und Geschäftsklima legten zu, wenn auch nur in kleinen Schritten. Die großen Konjunkturforschungsinstitute erhöhten für das kommende Jahr ihre Prognosen deutlich und sagen 2026 einen Aufschwung mit beachtlichen 1,5 Prozent Wachstum voraus – auch mit Verweis auf das Investitionspaket.




Deutlich vorsichtiger sind erstaunlicherweise die Regierungsökonomen: Der konjunkturelle Ausblick bleibe angesichts der Unwägbarkeiten der handelspolitischen Ankündigungen und Entscheidungen der US-Administration „verhalten“, schreibt das Wirtschaftsministerium in seiner Lagebewertung. „Eine erneute Abschwächung der deutschen Wirtschaft – unter anhaltenden Schwankungen – ist im weiteren Jahresverlauf nicht auszuschließen.“
Man kann nur hoffen, dass dem Merz-Klingbeil-Fonds nicht ein ähnliches Schicksal droht wie dem Coronafonds der EU: große Worte, kaum messbarer gesamtwirtschaftlicher Erfolg und ein Berg neuer Schulden.
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