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LebenshaltungEin Plädoyer für das Staunen

Der Mensch würde gerne alles kontrollieren. Unsere Kolumnistin weiß: unmöglich. Ein Plädoyer für Ehrfurcht und den Mut, Dinge geschehen zu lassen und nicht kontrollieren zu wollen.Patricia Thielemann 29.08.2025 - 04:00 Uhr Artikel anhören
Sternenhimmel über dem Lake Poaka in Neuseeland: „Ehrfurcht bedeutet, das Leben als größer zu erfahren, als wir es je kontrollieren könnten“, schreibt Patricia Thielemann. Foto: imago images/Westend61

Als Jugendliche stand ich im Hamburger Thalia Theater auf der Bühne – ein kleiner Geist in Goethes „Faust“. Immer wieder hörte ich den Protagonisten seine Sehnsucht hinausschreien: Er wolle erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“.

Dieser Satz bündelt einen Hunger, der bis in unsere Gegenwart reicht. Faust litt nicht daran, zu wenig zu wissen – er litt an seinem unstillbaren Drang, das Geheimnis des Lebens ein für alle Mal zu entschlüsseln. Dieser Drang machte ihn getrieben und anfällig für jede Verheißung, die ihm Erfüllung versprach.

Auch heute suchen wir nach Wegen zum Heil – allerdings heute meist mit technologischer Aufrüstung und nicht mehr nach der einen großen Wahrheit, sondern nach der perfekten Methode. Wir wollen messen, steuern, kontrollieren – in der Hoffnung, die Unsicherheit des Lebens zu bändigen. Doch je enger wir das Netz der Machbarkeit ziehen, desto weiter scheint uns das Wesentliche zu entgleiten.

Hier zeigt sich das Pudel-Paradox unserer Zeit. In Goethes Drama tritt Mephisto zunächst als unscheinbarer schwarzer Pudel auf, bevor er sein wahres Gesicht zeigt. Er verspricht Faust nicht die letzte Wahrheit, sondern Ablenkung, Sinnengenuss, das volle Spektrum des Weltlichen.

Auch heute tritt dieser Pudel wieder auf – nur in neuer Gestalt: als Wellbeing-Markt, der unsere Sehnsucht in Methoden übersetzt. Biohacking, Microdosing, Achtsamkeits-Apps – vieles davon wirkt, doch es bleibt dem Weltlichen verhaftet: Es geht um Produktivität, Stressabbau, Optimierung des Körpers oder des Geistes.

Kultur der ständigen Selbstkur

All das kann hilfreich sein. Aber es nährt den Glauben, Sinn und seelische Tiefe seien Projekte, die man sich aneignen kann. Damit bleibt unberührt, was uns in der Tiefe trägt.

Die Soziologin Eva Illouz hat gezeigt, wie tief dieses Muster reicht: Wir leben in einer Kultur, die uns ständig zur Selbstkur auffordert. Weil wir glauben, Anspruch auf ein durch und durch angenehmes Leben zu haben, greifen wir nach jeder neuen Methode, die uns Entlastung verspricht. Diese Kultur lädt dazu ein, permanent um das eigene Wohlbefinden zu kreisen – und entfernt uns so im Namen des Wellbeings von einem tiefen Eingebundensein ins Leben.

Auch ich kenne diese Versuchung: Immer wieder lasse ich mich von verheißungsvollen Angeboten blenden – in der Hoffnung, endlich eine Abkürzung zu finden, die den Umgang mit Kränkungen oder Überforderung leichter macht. Doch genau dann entzieht sich mir das, was ich eigentlich suche.

Das Leben ist größer als unsere Kontrolle darüber

Die kostbarsten Augenblicke waren immer jene, die sich nicht machen ließen: ein rosa Abendhimmel, der mich aus dem gewohnten Trott riss. Der erste Blick in die staunenden Augen eines Neugeborenen. Ein letztes „Auf Wiedersehen“ vor dem Tod eines geliebten Menschen. Solche Momente öffnen, was Rilke „das Offene“ nannte – jenen Raum, in dem das Ich durchlässig wird für eine größere Erfahrung.

Ehrfurcht bedeutet, das Leben als größer zu erfahren, als wir es je kontrollieren könnten. Sie ist eine Haltung, die Demut verlangt und Grenzen anerkennt. Ehrfurcht erwächst aus dem Blick für das Vergängliche, für Sinn im Bruch – sie macht uns lebendig, weil sie uns in Resonanz bringt mit dem Unverfügbaren.

Vielleicht ist es an der Zeit, der Ehrfurcht wieder einen besonderen Stellenwert einzuräumen – nicht als Abkehr vom Leben, sondern als Tor zu einer tieferen Erfahrung.

Sie bewahrt jene innere Dimension, die sich weder kaufen noch kontrollieren lässt. Und erinnert uns daran: Was die Welt im Innersten zusammenhält, lässt sich weder entschlüsseln noch kaufen – nur staunend erfahren.

Mehr: Können wir Stressresistenz wirklich erlernen?

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