Der Chefökonom: Darum kann Bürgergeld kein bedingungsloses Grundeinkommen sein


Seit seiner Einführung zum Jahreswechsel 2022/23 steht das Bürgergeld in der Kritik. Je nach Sichtweise wird es als zu hoch oder zu niedrig angesehen. Zudem setzt es im Vertrauen auf die Leistungen dieses Sozialsystems Anreize zum Rückzug aus dem Arbeitsmarkt.
Das dürfte die damalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles nicht im Sinn gehabt haben, als sie 2018 in einem Gastbeitrag in der „FAZ“ den Begriff „Bürgergeld“ prägte, mit dem das ungeliebte „Arbeitslosengeld II“ ersetzt werden sollte: „Die neue Grundsicherung muss also ein Bürgergeld sein – ein Recht auf Teilhabe für alle Bürgerinnen und Bürger.“
Zwei Jahre nach Nahles’ Rückzug aus der Politik wurde das Bürgergeld Ende 2021 in den Koalitionsvertrag der Ampelregierung aufgenommen. „Wir lösen die Grundsicherung durch ein neues Bürgergeld ab, damit die Würde des Einzelnen geachtet und gesellschaftliche Teilhabe besser gefördert wird“, versprachen SPD, Grüne und FDP, ganz wie einst von Nahles angestoßen. Doch anders als seinerzeit beabsichtigt sehen heute viele Bürger in dem Bürgergeld eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, wie es von Teilen der Grünen im Wahlkampf ins Spiel gebracht worden war.
Heute beziehen 5,56 Millionen Menschen Regelleistungen des Bürgergeldes. Das sind etwa eine halbe Million Personen mehr als zu Beginn der Legislaturperiode. Dieser Zuwachs dürfte mehrheitlich auf anspruchsberechtigte Ukraineflüchtlinge zurückzuführen sein.
Etwas mehr als vier Millionen Bezieher dieser Sozialleistung gelten als erwerbsfähig. Davon sind 1,8 Millionen ohne Arbeit – fast die Hälfte davon bereits länger als ein Jahr. Etwa 800.000 Bürgergeld-Bezieher sind erwerbstätig, nahezu die Hälfte ist geringfügig beschäftigt.
Arbeitsmotivation in Teilen der Bevölkerung gering
Ein mutmaßlicher Grund dafür ist, dass Minijobber bis zu 100 Euro monatlich verdienen können, ohne dass dieses Erwerbseinkommen auf das Bürgergeld angerechnet wird. Jene, die mehr verdienen, sehen sich mit sehr hohen Transferentzugsraten konfrontiert. Die Folge: Ihr Nettoeinkommen erhöht sich bei steigenden Bruttoeinkommen nur geringfügig.
Eine Ausweitung der regulären Erwerbstätigkeit lohnt daher kaum, wie verschiedene Beispielrechnungen des Ifo-Instituts zum Zusammenwirken von Bürgergeld, Wohngeld und anderen Leistungen zeigen. Im Extremfall bleiben einer vierköpfigen Familie in einer teuren Großstadt von 2000 Euro zusätzlichem Bruttomonatslohn gerade einmal 32 Euro netto übrig.
Nach einer Umfrage des Allensbach-Instituts ist dies ein wichtiger Grund dafür, dass die Arbeitsmotivation in Teilen der Bevölkerung sehr gering ist. So ist die Mehrheit der Befragten überzeugt, dass die Bereitschaft, sich beruflich zu engagieren, in den vergangenen Jahren merklich nachgelassen hat. Überdurchschnittlich ist dies in den sozial schwächeren Schichten zu beobachten; zwei Drittel der Angehörigen dieser Schicht sind der Ansicht, dass diejenigen, die viel arbeiten, die Dummen seien, da der Abstand zwischen Lohn und Bürgergeld zu gering sei.
Unbestreitbar ist, dass sich in den vergangenen Jahren der Abstand zwischen Lohn und Bürgergeld verringert hat. Der Grund: Die Arbeitseinkommen vieler Beschäftigen kompensierten nicht die Preiserhöhungen der vergangenen Jahre, während gleichzeitig das Bürgergeld binnen zwei Jahren um 25 Prozent angehoben wurde und überdies die Mehrkosten für das Wohnen meist vom Staat übernommen wurden.
Laut der Allensbach-Umfrage hat sich daher bei vielen Bürgern der Eindruck festgesetzt, die Politik kümmere sich wenig um jene, die arbeiten, und zu viel um jene, die von staatlichen Transfers leben. Und da zwei Drittel der Bürgergeld-Empfänger einen Migrationshintergrund haben, haben Rechtspopulisten und Demagogen ein leichtes Spiel.
„Hier ist Wut entstanden“, räumt SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert im „Spiegel“-Interview ein. „Unser Hauptaugenmerk muss denen gelten, die beispielsweise ohne Tarifvertrag schuften und keinen gerechten Lohn erhalten.“
Alterungsschub stresst den Arbeitsmarkt
Nun steht die deutsche Volkswirtschaft am Beginn eines etwa 15 Jahre dauernden demografisch schwierigen Zeitraums. Das Potenzialwachstum ist in den vergangenen Jahren bereits merklich gesunken und wird angesichts des absehbar schrumpfenden Erwerbspotenzials weiter zurückgehen. Die vergangenen 18 (!) Quartale ohne relevantes Wirtschaftswachstum haben bereits an der Substanz der Volkswirtschaft gezehrt und die öffentlichen Kassen unter Druck gesetzt.
Der bevorstehende, bestens prognostizierte Alterungsschub dürfte zum Stresstest für den Arbeitsmarkt und die lohnzentrierten Sozialversicherungen werden. Daher sollte es eine der wichtigsten Aufgaben jeder Regierung sein, möglichst viele Menschen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu motivieren, und für jene, die bislang in Teilzeit arbeiten, Anreize zu setzen, ihre Erwerbstätigkeit auszudehnen.
Nun ist es eine Binsenweisheit, dass Gelder, die umverteilt werden, zuvor erwirtschaftet werden müssen. Gleichermaßen unbestreitbar ist, dass ein intelligent konzipierter Sozialstaat den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und den für die wirtschaftliche Dynamik wichtigen Strukturwandel befördern kann. Voraussetzung für ein nachhaltiges Sozialsystem ist ein hoher Beschäftigungsgrad, also viele Erwerbstätige, die auskömmliche Markteinkommen erzielen.
Die jüngsten Haushalts- und Wachstumsbeschlüsse der Bundesregierung deuten darauf hin, dass Kanzler, Vizekanzler und Finanzminister dies erkannt haben. Geplant sind unter anderem neue Anreize für Mehrarbeit und ein höherer Druck auf unkooperative Bürgergeldempfänger. Ob diese Maßnahmen jedoch ausreichen, um das Potenzialwachstum der deutschen Volkswirtschaft von derzeit 0,5 Prozent auf ein Prozent zu verdoppeln, scheint mehr als fraglich.
Zum einen bedarf es der Einsicht, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie es die Bezeichnung „Bürgergeld“ suggerieren kann, ein Fremdkörper in unserer Sozialen Marktwirtschaft wäre. Zum anderen sind innovative Ideen gefragt, um die vorhandenen Erwerbspersonen zu motivieren, ihr Arbeitsangebot auszuweiten.
So hätten etwa die Tarifpartner die Möglichkeit, den vorhandenen tariflichen und innerbetrieblichen Spielraum für zusätzliche Überstunden zu erweitern und diese besser zu vergüten. Die Politik sollte den Mut aufbringen, die Ehegattenbesteuerung anreizfreundlicher zu gestalten und das Minijob-Privileg auf Schüler, Studenten und Rentner zu begrenzen. Ferner ist es geboten, das Bürgergeld im Zusammenwirken mit anderen Sozialleistungen so zu reformieren, dass eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung lohnender wird.




Nur wenn es in unserer Gesellschaft einen grundsätzlichen Konsens über das Leistungsprinzip in der Marktwirtschaft gibt, können jene Mittel erwirtschaftet werden, die ein starker Sozialstaat benötigt, um jene aufzufangen, die in Not geraten sind – unabhängig davon, ob durch individuelle Schicksalsschläge infolge des Strukturwandels oder durch gesamtwirtschaftliche Verwerfungen. Dieser Konsens bestand bislang in der gesamten Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik. Diese Stärke sollte Deutschland nicht aufs Spiel setzen.
Mehr: Arbeitsanreize, Bürokratieabbau – das steckt im Wachstumspaket
Erstpublikation: 12.07.2024, 08:26 Uhr.







