Editorial: Können Politiker überhaupt noch gewinnen?


Der französische Premier François Bayrou hat nicht einmal ein Jahr durchgehalten. Er scheiterte an der Vertrauensfrage, weil er die Schulden eindämmen und Feiertage streichen wollte. Er hatte keine Chance.
Friedrich Merz hält sich nach vier Monaten zwar noch im Amt. Aber er ist weit unbeliebter, als sein Vorgänger Olaf Scholz es nach 16 Wochen war. Und der war schon historisch unbeliebt. Ähnlich ergeht es Emmanuel Macron und Keir Starmer – und selbst Donald Trump kann trotz seiner Zölleshow nicht punkten: Eine knappe Mehrheit der Amerikaner lehnt ihn mittlerweile ab.
Kann der Politiker von heute überhaupt noch gewinnen? Oder ist sein Scheitern alternativlos?
Nie waren Regierungschefs unbeliebter
Das „Wall Street Journal“ hat vergangenes Jahr anhand von Umfragen analysiert: Nie zuvor waren die Regierungschefs der reichen Demokratien so unbeliebt wie heute, mit einer Ausnahme: der Schweiz.
Die Ursachen: Pandemie, Krieg, Inflation – viele Menschen sind verunsichert, ihre Toleranz gegenüber der Politik schwindet. Und die Politiker können dem wenig entgegensetzen: Kosten steigen, Wachstum fehlt, der politische Spielraum ist beschränkt. Eigentlich wären unpopuläre Entscheidungen nötig, um Wachstum und Spielraum zu schaffen. Die Folge? Siehe Bayrou.
Die schwarz-rote Koalition versucht, sich mit ihrem gigantischen Schuldenpaket aus dieser Machtlosigkeit zu befreien: Es sollte Wachstum und Optimismus bringen, stattdessen aber bleiben die Konjunkturaussichten mau. Die Aufbruchstimmung ist dahin, die Beliebtheit der Koalition auch.

Wie gefährlich es ist, wenn westliche Demokratien vor allem auf Schulden setzen, um sich aus ihrem politischen und wirtschaftlichen Tief zu befreien, beschreiben wir in unserer Titelgeschichte.
Das alles aber reicht nicht aus, um die Krise der Politiker zu erklären. Das Problem liegt tiefer.
Regierungen der Mitte sehen oft die Kernthemen vieler Menschen nicht mehr. Das war einer der Gründe, warum auch die Ampel an Rückhalt verloren hat. Klarheit und Kante beim Thema Migration zum Beispiel zeigte sie viel zu spät.
Vor allem aber kann die Politik heute eine ihrer jahrzehntelang gültigen Garantien nicht mehr erfüllen: das Aufstiegsversprechen, gerade für die Jungen. Das wiederum hat mit technologischen Disruptionen zu tun, auf die sich gerade die Länder Europas nicht schnell genug eingestellt haben. Nun müssen sie dabei zusehen, wie andere Regionen an ihnen vorbeiziehen.
Auch in der Politik selbst ist die Moderne nicht angekommen. Die liberale Demokratie regiert im Modus des 20. Jahrhunderts, während die Gesellschaft längst im Rhythmus der digitalen Realität lebt. Debatten über Gesetze im Parlament in zweiter und dritter Lesung, Anhörungen, Ressortabstimmungen, Vermittlungsausschüsse – all das klingt nach langwierigen Mühen und einer Zeit, die vergangen scheint.

Wer Nachrichten und ihre pointierte Bewertung in Echtzeit auf dem Smartphone gewohnt ist, empfindet politische Prozesse als lähmend. Wo bleibt das Gesetz, wo die Lösung, was sagt eigentlich der Kanzler dazu? Politiker werden zur Projektionsfläche einer Gesellschaft, die keine Geduld mehr kennt.
Trump reagiert darauf mit einem Dauerfeuer an Ankündigungen, mit einer Darbietung pausenloser Schaffenskraft. Merz versucht es mit Videos und Posts in Serie, er ist auf Tiktok aktiver als viele andere. Doch nicht alles, was er dort präsentiert, ist gelungen. Die Regel gilt: Wer soziale Medien nicht beherrscht, verliert an Popularität. Wer sie zu sehr beherrscht, verliert an Glaubwürdigkeit.
Das Herz der liberalen Demokratie ist der Kompromiss. Um Kompromisse zu finden, braucht es Zeit. In Zeiten medialer Dauerempörung ist das aber kaum noch zu vermitteln. Deshalb verliert die Demokratie ihre Fans.
Ist die Lage also hoffnungslos?
Ich musste zuletzt oft an die Pandemie denken. Binnen Wochen wurden milliardenschwere Hilfspakete beschlossen, Impfstoffe zugelassen, Lockdowns organisiert. Schon klar: Heute wissen wir, dass manches zu rabiat war, wichtige Debatten – auch im Parlament – fehlten. Aber die Zeit hat gezeigt: Politiker können schnell handeln, wenn sie nur müssen.
Ähnlich war es nach Russlands Angriff auf die Ukraine: Die Politik beschleunigte Energiepartnerschaften, baute LNG-Terminals, verabschiedete Entlastungspakete. Prozesse, die sonst Jahre dauern, gingen in Wochen.
Gelänge es, diese Fähigkeit nicht nur in der Notlage, sondern im politischen Alltag zu nutzen, ließe sich verlorenes Vertrauen zurückgewinnen. Schwarz-Rot aber ist zu schnell in den Trott politischer Gemütlichkeit zurückgefallen.





Die Koalition hätte im Sommer mehr entscheiden müssen: wo das staatliche Geld hinsoll, wie private Investitionen aktiviert werden, um es zu hebeln. Selbst harte Einschnitte wären vermittelbar gewesen, wenn das Tempo nur spürbar gewesen wäre. Zu spät ist es dafür noch nicht.
Zugleich müssen wir unsere Erwartung an die Politik auch drosseln: Demokratie kann man nicht einfach ausschalten, wenn sie anstrengend wird. Eine gewisse Langsamkeit liegt in ihrem Wesen. Wer Autokraten für ihre Effizienz bewundert, was hier und da zu hören ist, vergisst, welchen Preis man dafür zahlt: den der Freiheit, um die beste Lösung ringen zu dürfen – auch wenn es manchmal dauert.
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