Kolumne Geoeconomics: Waffenlieferungen und Frieden schließen sich nicht aus

Russland versucht weiter die Kontrolle über Bachmut zu bekommen. Noch wehren sich die Ukrainer.
In den aufgeregten Debatten über Waffenlieferungen kommt oft der Vorwurf, diese würden den Krieg nur verlängern. Wer Verhandlungen wolle, dürfe keine Waffen schicken. Doch das Gegenteil ist der Fall: Im besten Fall können Waffenlieferungen den Weg zu Verhandlungen sogar verkürzen.
Die Ukraine will als souveräner Staat überleben: Das ist ihr Ziel im Verteidigungskrieg gegen den russischen Angriff. Sie will selbst über ihre Zukunft entscheiden. Auch aus westeuropäischer Sicht ist eine souveräne Ukraine der beste Garant für Sicherheit in Europa. Souveränität, Unverletzlichkeit von Grenzen, freie Bündniswahl sind übrigens Ziele, auf die sich die Sowjetunion, später Russland, und die westlichen Staaten als Prinzipien des gemeinsamen Hauses Europa geeinigt hatten. Nachzulesen in der KSZE-Schlussakte 1975, der Charta von Paris 1990, der Nato-Russland Grundakte 1997.
Es geht also um Verhandlungen, die das Überleben einer souveränen Ukraine ermöglichen und den Weg zu einem dauerhaften Frieden ebnen.
Allerdings zeigt Russland bislang kein Interesse an einem Kriegsende, bei dem eine souveräne Ukraine fortbesteht. Moskau bietet Verhandlungen zu seinen Bedingungen an: Zuvor sollen seine Eroberungen als russisches Staatsgebiet anerkannt und von den Verhandlungen ausgenommen werden. Das betrifft neben der Krim die vier annektierten Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson.
Die Ukraine soll auf 15 Prozent ihres Territoriums (grob die Fläche Portugals) inklusive Bevölkerung verzichten und an Russland abtreten, bevor Verhandlungen überhaupt beginnen. Doch das wäre eine Kapitulation, keine Verhandlung. Angesichts der dokumentierten Verbrechen unter russischer Besatzung, von Folterkellern bis zu Massengräbern, in Isjum oder Cherson ist dies für Kiew unannehmbar.
Zumal die Formel «Land gegen Frieden» bereits 2014 nicht funktionierte: Damals musste die Ukraine hinnehmen, dass Russland die Krim annektierte und Teile des Donbass besetzte. Ein stabiler Frieden folgte nicht. Die Zeit seit 2014 war eher eine Atempause für Moskau, um den nächsten Schritt 2022 vorzubereiten. Und eine Bestätigung, dass es mit dem Recht des Stärkeren seine Interessen durchsetzen kann.
„Es geht offenbar nicht darum, vier Gebiete zu annektieren und danach friedlich neben einer souveränen Ukraine zu leben“
Viel wichtiger noch: Nichts deutet darauf hin, dass Russland sich mit den vier Regionen zufriedengeben würde. Denn offiziellen Aussagen zufolge sieht Moskau immer noch die Eigenstaatlichkeit der Ukraine als Fehler und, in der Tradition des russischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts, die Ukraine als Teil Russlands.
Es geht offenbar nicht darum, vier Gebiete zu annektieren und danach friedlich neben einer souveränen Ukraine zu leben. Es geht Moskau darum, dass die souveräne Ukraine aufhört zu existieren. Einen Eindruck davon, was ein russischer Sieg für die Ukraine bedeuten könnte, vermittelt die Lage in den besetzten Gebieten: die Aufgabe der ukrainischen Kultur und Selbstbestimmung - von der Zerstörung von Kirchen bis hin zu Massengräbern.
Wie also können Verhandlungen beginnen? Gespräche finden zwar statt, zum Beispiel über Gefangenenaustausche – aber nicht über das Kriegsende. Wie kann man Russland überzeugen, ohne Vorbedingungen an den Verhandlungstisch zu kommen, wenn es offenbar kein Interesse daran hat? So richtig die Forderung nach diplomatischen Ansätzen ist, so wenig hat sie eine Antwort auf diese Frage. Bitten, an den Verhandlungstisch zu kommen, den Krieg zu stoppen, aus der Ukraine abzuziehen, ist Moskau bislang nicht gefolgt. Noch glaubt es, den Krieg für sich entscheiden zu können oder zumindest zu verhindern, dass die Ukraine überlebt.
Im besten Fall können Waffenlieferungen der Ukraine ermöglichen, die militärische Lage so zu verändern, dass Russland Verhandlungen zustimmt
Ein schlechter Krieg, selbst ein Abnutzungskrieg, scheint für Putin innenpolitisch immer noch besser zu sein als ein Kriegsende, das offenbaren würde, dass er seine Ziele nicht erreicht hat. Ohne irgendeine Art von Umdenken in Moskau wird es in der Region keinen Frieden und keine Stabilität geben.
Daher scheint derzeit die erfolgversprechendste Option zu sein, dass die Ukraine Russland militärisch so unter Druck setzt, dass es Verhandlungen ohne Vorbedingungen zustimmt. Folglich schließen sich Waffenlieferungen und Verhandlungen nicht aus. Im Gegenteil: Im besten Fall können Waffenlieferungen der Ukraine ermöglichen, die militärische Lage so zu verändern, dass Raum für Verhandlungen (statt Kapitulation) entsteht, und so den Krieg verkürzen.






Die Unterstützung einzustellen hieße hingegen, Kiew in Richtung Kapitulation zu drängen, die Bevölkerung der russischen Besatzung preiszugeben und im schlimmsten Fall den Konflikt in die Länge zu ziehen, mit unkalkulierbaren Folgen für Stabilität und Sicherheit auch für Westeuropa. Ja, der Krieg wird mit Verhandlungen enden, aber das militärische Kräfteverhältnis am Kriegsende wird über den Frieden danach entscheiden. Und damit nicht nur über die Zukunft der Ukraine, sondern auch über die Sicherheit für uns alle in Europa.
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