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Kommentar Bidens Offenbarungseid bei der Tragödie in Afghanistan

Der US-Präsident wollte für eine werteorientierte Außenpolitik stehen. Seine Afghanistanpolitik spricht eine andere Sprache.
16.08.2021 - 19:21 Uhr Kommentieren
Am Ende ist der Fall von Kabul primär eine Niederlage Amerikas. Quelle: Reuters
US-Präsident Joe Biden

Am Ende ist der Fall von Kabul primär eine Niederlage Amerikas.

(Foto: Reuters)

Joe Biden ist als Präsident angetreten, um Berechenbarkeit, Glaubwürdigkeit, ja sogar Würde in die amerikanische Politik zurückzubringen. Das sind große Ziele – und bedeutet womöglich eine Aufgabe für ein ganzes Jahrzehnt.

Allzu groß ist der Vertrauensverlust, den vier Jahre Donald Trump mit sich brachten. Das ist auch der Grund, warum Biden ständig von einer wertegetriebenen Außenpolitik, von einer „Allianz der Demokraten“, von einem Kampf gegen die Autokraten spricht.

Nur: Die hehren Worte wollen nicht so recht zu seiner Afghanistanpolitik passen. Der Präsident hat den Truppenrückzug nicht erfunden, der war die Idee seines Vorgängers Trump. Aber Biden hat sich diese zu eigen gemacht – und in rasender Geschwindigkeit und ohne große Absprache mit den europäischen Bündnispartnern umgesetzt.

Die Tragödie, die sich jetzt in Afghanistan abspielt – sie lastet vor allem auch auf den Schultern des Präsidenten. Auch für die Tatsache, dass die so mächtigen US-Geheimdienste die Lage in Kabul offenbar völlig falsch eingeschätzt haben, trägt der Präsident die Verantwortung. Jetzt müssen all jene, die 20 Jahre lang daran mitgewirkt haben, Afghanistan aufzubauen, fluchtartig das Land verlassen.

Die Tatsache, dass ohne die Amerikaner in Afghanistan nichts, aber auch gar nichts geht, macht die Sache nicht besser. Die militärische Technologie, die logistischen Kapazitäten und überhaupt der Willen, an die Stelle Amerikas zu treten und die afghanische Regierung vor den Taliban zu schützen: Nichts davon ist auch nur in Ansätzen in Europa vorhanden.

Das europäische Ansinnen, sich endlich vom großen Bruder jenseits des Atlantiks zu emanzipieren, bleibt bloßes Gerede. „Die Sprache der Macht muss Europa lernen“, fordert Josep Borrell, der sogenannte Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Ursula von der Leyen, die ehrgeizige EU-Kommissionspräsidentin, träumt auffällig laut von einer „geopolitischen Kommission“.

So notwendig es wäre, diesen Emanzipationsprozess endlich einzuleiten, so sehr zeugen die Ankündigungen von Hybris. Auf Gedeih und Verderb sind die Europäer, sind am Ende alle Afghanen jenseits der Taliban auf Amerika angewiesen. Biden wird diese Verantwortung nicht wegdelegieren können.

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Am Ende ist der Fall von Kabul also primär eine Niederlage Amerikas, weshalb die Assoziation von „Bidens Vietnam-Moment“ auch nicht völlig abwegig erscheint. Der Präsident hätte den Truppenabzug an überprüfbare Fortschritte in den Verhandlungen mit den Taliban in Katar über die künftige Machtteilung in Kabul knüpfen können. Er hätte zunächst eine kleine, aber schlagkräftige Truppe vor Ort lassen können, um zu signalisieren: Die Amerikaner sind noch da.

Aber nein, der Präsident wollte innenpolitisch das Rückzugssignal, das die amerikanischen Wähler sich seit Jahren so herbeisehnen – und Biden hat geliefert, koste es, was es wolle. Sein Abschiedsgruß an die Afghanen, von nun an müssten sie „für sich selbst kämpfen“ und das „Recht und die Verantwortung wahrnehmen, über ihre Zukunft selbst zu befinden“, wirkt wie Hohn.

Es ist eine Verhöhnung des weltoffenen Teils der Afghanen, der darauf vertraut hat, dass der Westen es ernst meinte, als er vor 19 Jahren von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten für Afghanistan sprach.

Entrechtete Frauen, malträtierte „Kollaborateure“, Todesängste

Denn die Folgen des Rückzugs tragen am Ende vor allem die Afghanen selbst. Der Westen und seine Führungsmacht überlassen sie ihrem Schicksal oder besser dem Terror der selbst ernannten Gotteskrieger. Entrechtete Frauen, malträtierte „Kollaborateure“, Todesängste in weiten Teilen der Bevölkerung – das werden die Folgen der Machtübernahme der Taliban sein. Die menschlichen Schicksale stehen am Ende auch für einen Offenbarungseid westlicher Außenpolitik.

Und natürlich gibt es auch die sicherheitspolitischen und geopolitischen Komponenten: Die antiwestlichen Terrornetzwerke werden mit großer Wahrscheinlichkeit wieder prächtig auf afghanischem Boden gedeihen. Und auch China, der große geopolitische Rivale der Amerikaner, wird die Gunst der Stunde nutzen und die erstaunlich guten Beziehungen zu den Taliban für die Sicherung der üppigen Rohstoffvorräte am Hindukusch instrumentalisieren.

Selbst wenn Peking die Muslime im eigenen Land systematisch unterdrückt – Ideologie hin oder her: Wer Rohstoffe besitzt, ist Pekings Freund.

Die Idee, dass unsere Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt werden müsse, bemühte Peter Struck, SPD-Verteidigungsminister unter Kanzler Gerhard Schröder, nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, um die skeptischen Deutschen für ein militärisches Abenteuer an der Seite der Amerikaner in Afghanistan zu gewinnen.

So abwegig, wie es damals schien, ist diese Idee gar nicht – vor allem dann, wenn der erste Schritt eines militärischen Engagements erst einmal gemacht ist. Aber schon damals war klar, dass mit dem Engagement eine Überforderung wie auch eine große Verantwortung einhergehen – eine Verantwortung für das Land und eine Verantwortung für die Menschen dort.

Dieser Verantwortung sind Amerika und seine Verbündeten nicht gerecht geworden. Am Jahrestag von „9/11“ wird die weiße Fahne der Taliban über dem Regierungssitz in Kabul wehen. Ein symbolträchtigeres Bild für die Niederlage des Westens könnte es kaum geben – politisch wie moralisch.

Mehr: In Kabul bricht die Verzweiflung aus – Wie die Bevölkerung auf den Machtwechsel reagiert

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