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KommentarDie Pandemiebekämpfung in Deutschland geht auf Kosten der Kinder

Während das öffentliche Leben hochgefahren wird, stecken Kitas und Schulen im minimalen Notbetrieb. Es ist Zeit für einen Prioritätenwechsel bei der Pandemiebekämpfung. Jan Hildebrand 08.06.2020 - 19:08 Uhr

In vielen Staaten war und ist es das erste Ziel, Kindertagesstätten und Schulen möglichst schnell wieder zu öffnen. In Deutschland stehen sie auf der Liste ganz unten.

Foto: dpa

Wer mit seinen Kindern in diesen Tagen Nachrichten schaut, kommt in Erklärungsnot. Da sind Bilder zu sehen von Zehntausenden Menschen, die dicht an dicht gedrängt demonstrieren. Es wird berichtet, dass Fitnessstudios, Kinos und Spielhallen wieder öffnen. Und das alles sehen und hören Kinder, die seit mittlerweile fast drei Monaten keine Kita mehr von innen gesehen haben; Kinder, denen als großes Entgegenkommen verkauft wird, dass sie alle zwei Wochen mal für acht Stunden in die Schule dürfen.

Die Prioritäten in der Pandemiebekämpfung sind in Deutschland vollkommen durcheinandergeraten. In vielen Staaten war und ist es das erste Ziel, Kindertagesstätten und Schulen möglichst schnell wieder zu öffnen. In Deutschland stehen sie in der Liste ganz unten, irgendwo hinter Bars, Biergärten und Bordellen. Das Argument lautet dann: Kinder könnten nicht Abstand halten.

Richtig ist aber: In den wenigen Stunden, die sie in die Schule dürfen, bekommen das die meisten Erstklässler deutlich besser hin als die 25.000 Erwachsenen auf dem Münchener Königsplatz und die 15.000 auf dem Berliner Alexanderplatz bei den Demonstrationen am Wochenende.

Bildung wird zwar gerne in Reden beschworen, spielt aber in der praktischen Tagespolitik eine untergeordnete Rolle, was sich am beklagenswerten Zustand der Schulen hierzulande zeigt. Das ist schon lange so, und in der Coronakrise ist das Desinteresse noch größer geworden. Oder erinnert sich jemand an einen Kinder- oder Schulgipfel bei Angela Merkel im Kanzleramt?

Wer danach fragt, bekommt als Antwort den Hinweis auf die Zuständigkeit der Länder zu hören. Ganz so, als hätten Kanzlerin, Bundesminister und Ministerpräsidenten in den vergangenen Monaten nicht ständig Maßnahmen beraten und abgestimmt, die hauptsächlich in die Länderverantwortung fallen.

Versuch, vom Versagen im Bildungsbereich abzulenken

In ihrem 130 Milliarden Euro schweren Konjunkturpaket hat die Große Koalition eine Milliarde Euro für Investitionen in Kitas und zwei Milliarden Euro für Schulen vorgesehen. Und dann gibt es noch 300 Euro Familienbonus – ein wenig Schmerzensgeld, um den wachsenden Ärger vieler Eltern zu dämpfen.

Es ist auch der Versuch der Politik, vom Versagen im Bildungsbereich abzulenken, vom Mangel an Vorschlägen und Konzepten. Jede Schule solle sich doch bitte vornehmen, nach den Sommerferien wieder „strukturierten Unterricht“ anzubieten, forderte Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) kürzlich in einem Interview. „Wie auch immer“, fügte sie an. Nach drei Monaten ist das nun also der Masterplan der Bildungsministerin zur Rückkehr zum Regelbetrieb der Schulen: „wie auch immer“.

Zu Beginn der Pandemie gab es eine Diskussion, ob ältere Menschen und Risikogruppen isoliert werden sollten, damit für alle anderen das Leben so normal wie möglich weiterlaufen kann. Das wurde zu Recht empört verworfen.

Doch dann hat man sich schleichend und ohne Diskussion dazu entschieden, stattdessen vor allem Kinder zu isolieren. Während das öffentliche Leben überall wieder hochgefahren wird, fahren Kitas und Schulen im minimalen Notbetrieb.

Dabei ist noch immer nicht genau klar, welche Infektionsgefahr von Kindern ausgeht. Studien kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, zuletzt mehrten sich die Hinweise, dass Kinder bei dieser Pandemie eben keine Virenschleudern sind.

Viele Staaten, die schon vor Wochen die Kitas und Schulen wieder geöffnet haben, verzeichnen dadurch keine steigenden Infektionen. In Israel gibt es hingegen Probleme an Schulen, und sie müssen wieder geschlossen werden.

Das alles mahnt sicherlich zu einem vorsichtigen Vorgehen. Es liefert aber keine Begründung dafür, Kindern ihr normales Leben weitgehend zu verwehren, während Erwachsene wieder zusammen Sport im Fitnessstudio machen oder in Bars trinken gehen – allesamt Aktivitäten, die mit größeren Ansteckungsrisiken verbunden sind, als in einem Klassenraum mit Abstand nebeneinanderzusitzen.

Soziale Kosten übersteigen längst den Nutzen

Und so ist es auch nicht ersichtlich, warum derzeit viele Lehrer vom Präsenzunterricht befreit sind, während etwa Angestellte in Geschäften selbstverständlich zwischen den Kunden Regale einräumen oder an der Kasse sitzen.

Die sozialen Kosten des derzeitigen Kurses übersteigen jedenfalls längst den Nutzen. Und dabei muss man gar nicht an die schlimmsten Fälle denken, bei denen Gewalt an Kindern nun unentdeckt durch Erzieher und Lehrer bleibt. Kinder leiden unter der sozialen Isolation. Ihr Unglück ist, dass sie keine Lobby haben, die das bei der Politik vorträgt und Druck aufbaut. Das ist allerdings nicht nur zu ihrem Nachteil, sondern der Gesellschaft insgesamt.

Denn auch die ökonomischen Kosten sind immens. Das Ifo-Institut hält aufgrund einer dauerhaften Absenkung des Bildungsniveaus einen Langfristschaden von 5,4 Billionen Euro in Deutschland für möglich.

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Und auch wenn diese Rechnung recht grob und nicht unumstritten ist, so ist es doch ökonomischer Konsens, dass eine flächendeckende Schulöffnung enorme positive Effekte auf das Wirtschaftswachstum hätte. Insofern wäre diese Maßnahme eine gute Ergänzung für das Konjunkturpaket der Großen Koalition.

Umgekehrt gilt: Sollten die Infektionszahlen demnächst wieder steigen, weil sich Erwachsene derzeit bei Weitem nicht immer verantwortungsvoll verhalten, dürfen darunter nicht wieder zuerst die Kinder leiden, indem die Öffnung von Kitas und Schulen verzögert oder später wieder rückgängig gemacht wird.

Mehr: Für digitalen Aktionismus in der Bildung ist jetzt der falsche Zeitpunkt: Corona hat die deutsche Bildungslandschaft kalt erwischt. Doch alles zu digitalisieren, wäre falsch.

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