Kommentar: Frankreich-Wahl: Macron ist nach der ersten Runde nur scheinbar der klare Favorit

Knapper als man denkt.
Auf den ersten Blick scheint sich nicht viel verändert zu haben: Emmanuel Macron liegt nach der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl vorn, in der Stichwahl muss er gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen antreten. Die meisten unterlegenen Kandidaten rufen ihre Anhänger dazu auf, im zweiten Wahlgang für Macron oder zumindest nicht für Le Pen stimmen. Der alte wird der neue Präsident sein, es geht weiter wie gehabt.
Diese Sichtweise wäre ein Fehler. Die Wahl am Sonntag hat eine neue politische Ordnung im Nachbarland zementiert. Frankreich ist im Kern gespalten: in ein liberales, proeuropäisches und ein nationalistisches Lager. Eine bedeutende Minderheit kann sich mit keiner dieser beiden Strömungen identifizieren. Ob Macron am 24. April erneut in den Élysée-Palast gewählt wird, ist noch längst nicht ausgemacht.
Der amtierende Präsident wird oft als linksliberal bezeichnet, macht aber eigentlich eine eher liberal-konservative Politik. Er steht für ein Frankreich, das sich mit wirtschaftlichen Reformen dem globalen Wettbewerb stellt. Das seinen Platz in einer starken Europäischen Union sieht. Das Zuwanderung grundsätzlich offen gegenübersteht, aber sich dafür klare Regeln wünscht. Das auf mehr Polizeipräsenz für mehr Sicherheit nicht verzichten will.
Macron hat seine Stimmenanteile in der ersten Runde verglichen mit der Wahl vor fünf Jahren ausbauen können. Doch das Potenzial seines Programms stößt an klare Grenzen.
Den Großteil der Unterstützung rechts und links der Mitte hat der Präsident bereits aufgesogen – was sich auch an dem historisch schwachen Abschneiden der Sozialisten und der konservativ-bürgerlichen Republikaner zeigt. Die neue Konfliktlinie, die Macron und Le Pen in der Stichwahl trennt, entsteht auf den Trümmern der parteipolitischen Ordnung, die Frankreich in den vergangenen Jahrzehnten geprägt hat.
Von seiner Rolle als Beschützer der Nation in Krisenzeiten kann Macron nicht wirklich profitieren. Sein Ergebnis am Sonntag lag unter seinen Umfragewerten von Anfang März, als die Sorgen in der französischen Bevölkerung wegen des Ukrainekriegs noch ausgeprägter waren.
Für seine Wiederwahl braucht er vor allem die linken Wähler, die ihm und seiner Politik kritisch gegenüberstehen. Werden sie in zwei Wochen für den Präsidenten stimmen, um Le Pen zu verhindern? Oder aus Frust über die eigene Machtlosigkeit und aus Abneigung gegenüber Macrons Plänen, wie etwa dem eines höheren Renteneintrittsalters, den Urnen fernbleiben?
Macron als Präsident der Reichen?
Der Ausgang des ersten Wahlgangs zeigt auch: Mehr als die Hälfte der Wähler hat sich von der Mitte verabschiedet. Die Koalition des Protests reicht vom Rechtsnationalisten Éric Zemmour über Le Pen bis hin zum Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon. Mélenchon landete am Sonntag nur knapp hinter Le Pen auf dem dritten Platz. Seine Anhänger rief er nicht zur Wahl von Macron auf, sondern forderte lediglich, keine Stimme an Le Pen zu geben.
Hinter diesem Block steht das andere Frankreich, in dem Macron als Präsident der Reichen und Anwalt der globalisierten Eliten gesehen wird. Bei gesellschaftspolitischen Fragen wie der Zuwanderung unterscheiden sich die politischen Ränder links und rechts, sozial- und wirtschaftspolitisch lassen sich aber viele Übereinstimmungen finden. Ihre Wortführer setzen auf Abschottung, die EU gilt hier als Fessel für das eigene Land, die Nato als imperialistisches Projekt der USA. Für Wladimir Putin hatten sie lange viel Verständnis, auch wenn sie dessen Angriffskrieg in der Ukraine nun verurteilen.

Le Pen positioniert sich für die Stichwahl als Anführerin des Anti-Macron-Blocks. Sie gibt sich als Vertreterin der einfachen Franzosen, als Kämpferin gegen die Eliten und die Kräfte der Globalisierung. Ihre besten Ergebnisse erzielte sie in Gegenden, in denen Fabriken und Postämter geschlossen haben, in denen kein TGV eine schnelle Verbindung nach Paris garantiert. Auch Mélenchon ist in diesen Regionen stark, gepaart mit Unterstützung aus einem urbanen Intelligenzmilieu. Wie vielen seiner Anhänger wird ein Bollwerk gegen den verhassten Präsidenten am Ende wichtiger sein als die Barriere gegen Rechtsaußen?
Die Stimme für Le Pen könnte vielen Franzosen auch deshalb leichter fallen, weil sich die Rechtspopulistin im Ton und ihren Forderungen gemäßigt hat. An ihren Grundüberzeugung hat sich wohl wenig geändert. Doch dass diese Teufelsaustreibung in eigener Sache wirkt, zeigen verschiedene Umfragen, in denen Le Pen den Abstand gegenüber Macron im direkten Duell dramatisch verkürzen konnte.





