Kommentar: Lindners Papier ist stark – doch er überging einen Schritt


Seit fast fünf Jahren wächst die deutsche Volkswirtschaft praktisch nicht mehr. Der einstige Wachstumsmotor der EU ist zum Bremsklotz des alten Kontinents geworden. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, und ungeachtet einer Staatsquote von annähernd 50 Prozent mangelt es dem Staat, präziser der Bundesregierung, an Geld.
Gleichzeitig ist angesichts der nachhaltigen Realeinkommensverluste die Unzufriedenheit in der Bevölkerung gewachsen – und damit die Nervosität bei den drei einstigen Ampelparteien gestiegen.
Weite Teile der SPD versuchen, die geänderten ökonomischen und geopolitischen Realitäten zu verdrängen, und sehen in dem Ausbau des Sozialstaats das Patentrezept zur Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands.
Die Grünen halten unverändert an der Idee einer staatlich gelenkten und mit Schulden finanzierten ökologischen Transformation der Volkswirtschaft fest und verdrängen die bestehenden Restriktionen der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse. Das Fehlen gemeinsamer Ziele, Überzeugungen und politischer Prioritäten führte schließlich zum Bruch dieses einstigen „Zukunftsbündnisses“.
Die Ampel ist nunmehr Geschichte, die Wachstumsprobleme der deutschen Volkswirtschaft bleiben jedoch bestehen und sind mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten zweifellos größer geworden. Trotz der Schwächen im Detail wäre Christian Lindners „Wirtschaftswende“-Papier es daher wert gewesen, dass sich die politischen Entscheidungsträger mit den Inhalten auseinandersetzen.
Frühere Klimaneutralität hilft dem Klima nicht
Neben bekannten steuerpolitischen Vorschlägen wie dem Auslaufen des Solis sowie der Senkung der Körperschaftsteuer wird dort ein Politikwechsel in den Bereichen Arbeit und Klimapolitik vorgeschlagen. Diese Neuausrichtung hätte kein zusätzliches Geld erfordert und wäre daher konform mit der Schuldenbremse gewesen. Solch eine Kursänderung wäre ohne Einschaltung des Bundesrats möglich gewesen.
Konkret ging es darum, das deutsche Klimaschutzziel an das der EU anzupassen; Klimaneutralität bis 2050 statt bis 2045. Aufgrund des EU-Emissionshandels wäre dem Klima nämlich nicht geholfen, wenn Deutschland fünf Jahre früher Klimaneutralität erreichen würde. Das in Deutschland eingesparte CO2 würde dann von anderen EU-Ländern emittiert. Ferner wird in diesem Papier ein „Belastungsmoratorium für die Wirtschaft“ gefordert, welches einige Vorhaben von Sozialminister Hubertus Heil (SPD) betroffen hätte.
Aus makroökonomischer Sicht waren einige Vorschläge des Ex-Bundesfinanzministers nachvollziehbar. Deswegen kam Zuspruch von einer Reihe von Ökonomen – und manches wird dem regelmäßigen Leser dieser Kolumne bekannt vorgekommen sein.
Ob solch eine getarnte Kampfansage an die Koalitionspartner politisch klug war, steht freilich auf einem anderen Blatt. Fakt ist, dass in einer Demokratie jedem gestaltenden Schritt die Organisation der erforderlichen politischen Mehrheiten vorausgehen muss. Solche politischen Mehrheiten waren – anders als 1982, als mit dem Lambsdorff-Papier das Ende der sozialliberalen Koalition eingeläutet wurde – für Lindners FDP nicht in Sicht.
Bei der nunmehr zu erwartenden Neuwahl dürfte es vermutlich zu einer unionsgeführten Koalition mit der SPD kommen. Die FDP hätte dann jeglichen politischen Einfluss verloren. Gleichzeitig war der von Lindner provozierte Koalitionsbruch wohl der einzige Weg, die FDP aus dem Umfragetief zu führen und damit eine Chance zu eröffnen, im nächsten Bundestag noch vertreten zu sein.
Wachsender Protektionismus behindert Deutschland
Natürlich, das Lindner-Papier hatte gravierende Schwächen: Es blendet aus, dass viele Probleme der exportorientierten deutschen Wirtschaft nicht aus Versäumnissen der Bundesregierung resultieren. Selbst wenn die Pläne des FDP-Vorsitzenden zeitnah Realität geworden wären, würde der multilaterale Freihandel nicht zurückkehren, Russlands Krieg gegen die Ukraine wäre nicht beendet, und deutsche Unternehmen würden nicht noch einmal von einem rasanten Aufstieg Chinas profitieren.
Tatsächlich erwächst ein erheblicher Teil der heutigen Probleme der deutschen Volkswirtschaft aus der geopolitischen Neuausrichtung der USA. Unter Präsident Barack Obama begann die größte Volkswirtschaft mit einem Mix aus Exportbeschränkungen, Zöllen, Einfuhrverboten und einer Blockade der Welthandelsorganisation Sand in das Getriebe des Freihandels zu streuen – nicht zuletzt, um den Aufstieg Chinas zu bremsen. Und Joe Bidens als „Inflation Reduction Act“ getarntes Konjunkturpaket zielt unverhohlen darauf ab, Importe dauerhaft durch subventionierte neue Produktionsstätten zu ersetzen.
Mit der Wiederwahl von Donald Trump wird sich der Protektionismus verstärken. Das Narrativ, der Freihandel sei Ursache und nicht die Lösung vieler Probleme, hat sich seit einiger Zeit nicht nur in den USA in vielen Köpfen festgesetzt. Der heute größte Abnehmer von Produkten „made in Germany“ wird zum Totengräber mancher Produktionsstätte in Deutschland.
Richtig ist, dass Transformationen Zeit benötigen und Anpassungsschmerzen verursachen. Deutschland muss mehrere solcher Prozesse gleichzeitig bewältigen: die Deglobalisierung, gepaart mit einem fortschreitenden Protektionismus, die Dekarbonisierung und nicht zuletzt den demografischen Wandel – genauer: die rapide Alterung der Bevölkerung und den resultierenden Personalmangel. Entsprechend groß sind die Anpassungsschmerzen.
Allerdings sollte nicht vergessen werden, dass ein entscheidender Faktor für die wirtschaftlichen Erfolge deutscher Unternehmen in der Nachkriegsgeschichte ihre hohe Anpassungsfähigkeit war. Produktionen, die anderswo günstiger möglich waren, wurden konsequent ins Ausland verlagert. So konnte trotz hoher Arbeitskosten Wertschöpfung im Inland gesichert werden.
Vorschläge nicht falsch, nur weil sie von der FDP kommen
Lag der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung vor einem halben Jahrhundert bei um die 40 Prozent, ist er heute nur noch halb so groß, ohne dass dies der Volkswirtschaft nachhaltig geschadet hätte – selbst wenn ganze Branchen wie die Textilindustrie verschwanden.
Man muss kein Prophet sein: Die Bedeutung der Autoindustrie sowie der energieintensiven chemischen Industrie für den Standort Deutschland wird weiter sinken. Primäre Aufgabe der Politik ist es nicht, diese Branchen vor Umbrüchen zu schützen. Sie sollte dafür sorgen, dass Transformationen gelingen und Verlierer des Strukturwandels vom Sozialstaat aufgefangen werden.
Arbeitsplätze in einzelnen Branchen dauerhaft mit steuerfinanzierten Subventionen zu erhalten führt oft dazu, dass produktivere Jobs in anderen Branchen unbesetzt bleiben. Erinnert sei an die horrenden Subventionen, mit denen die Steinkohleförderung jahrzehntelang aufrechterhalten wurde.






Hätten SPD und Grüne Lindners Papier nicht als Drohung, gar als Scheidungspapier verstanden, sondern als Einordnung der Wirtschafts- und Finanzpolitik, hätte es durchaus als Diskussionsgrundlage dienen können. Dazu hätten die Entscheidungsträger von SPD und Grünen akzeptieren müssen, dass Vorschläge nicht schon deshalb falsch sind, weil sie von der FDP kommen.
Nun werden diese 18 Seiten als Lindners Vermächtnis in die deutsche Wirtschaftsgeschichte eingehen.
Mehr: Die Vertrauenskrise in den deutschen Staat findet in vier Dimensionen statt








