Kommentar: Migrationsdebatte: Weniger Populismus wagen


Die Flüchtlingskrise hat sich derart zugespitzt, dass sich die politisch Verantwortlichen eingestehen müssen, dem Thema viel zu lange nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt zu haben.
„Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.“ So lautet ein oft bemühtes Zitat, das dem früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zugeschrieben wird. In der aktuellen Migrationsdebatte erhält der Satz eine ungeahnte Aktualität.
Die Flüchtlingskrise hat sich derart zugespitzt, dass sich die politisch Verantwortlichen eingestehen müssen, dem Thema viel zu lange nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. In einer Zeit, in der sich Krisen und Konflikte häufen, fällt das jetzt allen auf die Füße. Die Betonung liegt auf „allen“.
Nicht nur der Ampelregierung sind Versäumnisse in der Flüchtlingspolitik anzulasten. Das Thema steht schon seit Jahren auf der politischen Agenda. Auch die Union hat dazu beigetragen, dass Deutschland in einem schwer auflösbaren Migrationsdilemma steckt.
Man denke nur an die Wir-schaffen-das-Politik der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel in den Flüchtlingskrisenjahren 2015 und 2016. Merkel hat damit das Land gespalten und der AfD den Weg für ihren späteren Aufstieg geebnet.
Umso dringlicher ist es jetzt, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen und parteiübergreifend Lösungen zu finden, um in der Flüchtlingsfrage voranzukommen. Dass der Bundeskanzler den Schulterschluss mit der Union und den Ländern sucht, ist vernünftig. Man fragt sich nur, warum erst jetzt?
Wünschenswert wären weniger Symbolpolitik und mehr Realismus
Nach den AfD-Erfolgen bei den Landtagswahlen in Hessen und in Bayern wirkt das Agieren von Olaf Scholz nun wie getrieben. Das erhöht das Risiko, dass eilig beschlossene Maßnahmen kaum die gewünschte Wirksamkeit entfalten.
Das angeschobene Abschiebepaket beispielsweise, das Scholz forciert hat, soll schnellere Abschiebungen ermöglichen. Das Problem ist nur: Es gibt kaum Staaten, in die abgeschoben werden könnte. Die Herkunftsländer nämlich haben in der Regel wenig Interesse daran, ihre Leute aus Europa heimzuholen. Das gilt übrigens auch für Hamas-Unterstützer. Es sind solche politischen Nebelkerzen, die die Bürgerinnen und Bürger ärgern und der AfD Wähler zutreiben.
Wünschenswert wären weniger Symbolpolitik und mehr Realismus. Konkret: Wenn die Bundesregierung Flüchtlingszahlen senken will, muss sie zwingend Migrationsabkommen mit Drittstaaten außerhalb der EU abschließen. Mit Herkunftsstaaten, aber vor allem mit Transitländern wie Tunesien, das als Hauptabreiseort für Migranten aus Nordafrika gilt, die nach Europa wollen.
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Hierauf sollte sich der eigens für solche Abkommen eingesetzte Regierungsbeauftragte konzentrieren und nicht auf Länder wie Kenia, Kirgistan oder Usbekistan, aus denen nur wenige Hundert Asylbewerber kommen. Das ist freilich nicht einfach, aber es ist notwendig, wenn man dauerhaft die irreguläre Migration in den Griff bekommen will.
Die nationalen Möglichkeiten in der Flüchtlingspolitik sind begrenzt
Am Ende werden sich ohnehin alle eingestehen müssen, dass die nationalen Möglichkeiten in der Flüchtlingspolitik begrenzt sind. Vieles ist mit europäischem und internationalem Recht verknüpft, das der deutsche Staat nicht einseitig ändern kann. Das sollten auch CDU und CSU wissen.
Forderungen wie etwa die nach einer Flüchtlings-Obergrenze mögen vielleicht im Wahlkampf verfangen – wobei auch das zu bezweifeln ist und eher die AfD stärkt. In Wahrheit driften solche Vorstöße ins Leere und verhindern im Zweifel den angestrebten Schulterschluss mit der Ampel in der Migrationsfrage.






Ein Scheitern kann sich jetzt aber niemand mehr erlauben. Es steht zu viel auf dem Spiel. Der Mini-Migrationsgipfel am Freitag im Kanzleramt war so gesehen ein später, aber doch richtiger Schritt, um sich parteiübergreifend zusammenzuraufen. Die Zufriedenheitsbekundungen nach dem Treffen geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus.
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