Kommentar: Weckruf ins Musk-Universum


Womöglich war 2022 im Nachhinein das Wendejahr für Musk: Tesla erklomm den Gipfel – und seinem Chef vernebelte der Erfolg den Verstand.
Am Mittwoch will der Elektroautopionier Tesla seine Halbjahreszahlen vorlegen. Doch selbst neue Absatzrekorde und steigende Aktienkurse können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ansehen seines Konzernchefs Elon Musk auf einem Tiefpunkt angekommen ist. Dass er Facebook-Gründer Mark Zuckerberg nun auch noch öffentlich einen Penislängenvergleich vorschlägt, ist da fast schon eine Randnotiz.
Es ist unübersehbar: Das Prinzip Elon Musk ist an einem Endpunkt angekommen. Bleiben noch zwei Möglichkeiten: Musk wacht auf. Oder er geht. Aber der Reihe nach.
Musk hat mit seinen Unternehmungen die Welt zum Positiven verändert. 2008 wurde er CEO bei Tesla. Während Musk seinen Werbefeldzug für die Elektromobilität begann, arbeiteten die Volkswagen-Ingenieure daran, die Emissionswerte ihrer Dieselmotoren zu fälschen.
Musks Strategie war goldrichtig: Tesla begann seinen Siegeszug mit einem Sportwagen, der sogar Kaliforniens Gouverneur Arnold Schwarzenegger überzeugte. Die oberste Prämisse: Elektroautos sind keine Golf- oder Milchkarren, sondern sexy. Mehrmals stand der Konzern vor der Pleite, Musk schoss eigenes Geld nach, schlief auf dem Fabrikboden.
2017 beschloss Norwegen als erstes Land, in wenigen Jahren nur noch Elektroautos zuzulassen. Während sich BMW und Co. mit dem Schlagwort „Technologieoffenheit“ durchwurschtelten, gewann Tesla Marktanteil um Marktanteil. Seit 2020 ist Tesla profitabel.
Die unglaubliche Erfolgsstory, sich mit der gesamten traditionellen Autoindustrie anzulegen – und zu gewinnen, erklärt einen Teil des Börsenwerts. Tesla ist heute mehr wert als Ford, GM, Volkswagen, Mercedes und Toyota zusammengenommen. Doch es gibt noch eine weitere Erklärung für diese erstaunliche Zahl: Musk ist ein Magier der Worte – und ein Meister der Ankündigungen.
Tesla, das Wunderunternehmen – glaubt man Musk. Ein Elektroautobauer, klar. Aber auch eine Solarfirma. Ein Ladenetzbetreiber. Der Prototyp der Autofabrik der Zukunft. Ein Entwickler von humanoiden Robotern. Ein Robotaxi-Produzent.
Musk wird zur Belastung für Tesla
Manches davon ist Realität, anderes Zukunftsmusik, wieder anderes ein Zerrbild. Musk hat über die Jahre das Silicon-Valley-Prinzip „Fake it till you make it“ auf die Spitze getrieben, und bei keinem Thema zeigt sich das so sehr wie beim Autopiloten – dem Projekt, das laut Musk darüber entscheidet, „ob Tesla viel Geld wert ist oder praktisch null“.
Die Erkenntnisse aus den Tesla-Files, die das Handelsblatt erhalten hatte, belegen, was praktisch jeder Beobachter in den USA schon seit Jahren vermutet hat: Der Tesla-Autopilot ist nicht sicher, sondern krankt an einem grundlegenden Designproblem: Zusätzliche Sensoren wie Radar und Lidar lehnt Musk ab. Doch ohne sie sind die Kameras in heiklen Situationen blind.
Tesla betont in Gerichtsdokumenten, dass Fahrer jederzeit die Straßenlage überwachen müssen, vermarktet sein System jedoch als „vollständige Selbstfahrfähigkeit“. Musk befeuert diese Hybris. Sie gefährdet Menschenleben.
Dass Musk zunehmend zur Belastung für Tesla wird, bereitet auch Weggefährten Sorgen, die ihn schon lange kennen. Die Eskapaden rund um die Übernahme des Kurznachrichtendiensts Twitter und sein politisches Abdriften nach rechts irritieren selbst treue Fans – und vertreiben mögliche Neukunden.
Lesen Sie hier die Handelsblatt-Recherchen zu den Tesla-Files:
Im jüngsten Axios Harris Poll zum Markenvertrauen der US-Verbraucher ist Tesla abgestürzt, von Rang elf im Jahr 2022 auf Rang 62. Und das Image schwächelte zuletzt so stark, dass Tesla erstmals Werbung schalten musste – ein Schritt, den Musk mit Verweis auf seine Reichweite und Popularität immer abgelehnt hatte.
Noch sorgt Teslas beispiellose Rabattschlacht für Absatzrekorde. Nachhaltig ist das nicht. Noch ziehen Musks Unternehmen junge Absolventen in Scharen an. Die besten Ingenieure bewerben sich bei Tesla, was einen großen Teil des Erfolgs des streng hierarchisch geführten Konzerns ausmacht. Sollte sich auch das ändern, droht mit dem Braindrain hin zur Konkurrenz das Mittelmaß.
Womöglich war 2022 im Nachhinein das Wendejahr für Musk: Tesla erklomm den Gipfel – und seinem Chef vernebelte der Erfolg den Verstand. 2023 ist es höchste Zeit für zwei Weckrufe ins Musk-Universum: Ein Weltkonzern kann nicht wie ein Start-up geführt werden. Und niemand ist unersetzbar.
Musk sollte eine Auszeit nehmen
In seinem eigenen Interesse sollte Musk eine Auszeit nehmen, Kontrolle abgeben und seinen Twitter-Account ausschalten. Doch von selbst wird der 51-Jährige nicht aufwachen.
Von wem könnte der Weckruf kommen? Vom Tesla-Verwaltungsrat sicher nicht. Er ist Musk-hörig, zu groß ist der Einfluss des CEOs und größten Anteilseigners. Stattdessen müssen die Aufseher einschreiten.
Zu lange haben sie Musk freie Hand gelassen. Die Straßenverkehrsaufsicht NHTSA, seit Jahren nur mit einem kommissarischen Verwalter an der Spitze versehen, leitete nach zahlreichen tödlichen Unfällen Untersuchung um Untersuchung des Tesla-Autopiloten ein – echte Konsequenzen blieben aus.
Die Börsenaufsicht SEC kritisierte Musk für manipulative Tweets und gebrochene Fristen rund um die Übernahme von Twitter, doch die Ermittlungen verliefen im Sande. Das muss sich endlich ändern.


So kurios es klingt: Vom Einschreiten der verhassten Regulierer könnte auch der reichste Mann der Welt profitieren. Ein Kurswechsel kann verhindern, dass Tesla ein Autohersteller unter vielen wird – und der schillerndste Unternehmer unserer Tage zur Witzfigur.
Kann Musk jedoch weiter schalten wie gehabt, dann droht er noch zu Lebzeiten sein eigenes Denkmal in Stücke zu hauen. Es wäre schade drum.
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