Morning Briefing Gipfel der Enttäuschung
Liebe Leserinnen und Leser,
es ist einer der längsten EU-Gipfel der Geschichte. Drei Tage und drei Nächte verhandelten die Staats- und Regierungschefs der europäischen Länder bisher über einen Wiederaufbaufonds und den mehrjährigen Finanzrahmen der Europäischen Union für die Jahre 2021 bis 2027. Am Morgen vertagten sie sich auf Montagnachmittag, um 16 Uhr soll es weitergehen.
Es gibt viel Frust: Kanzlerin Angela Merkel warnte vor einem Scheitern des Gipfels, Italiens Premier Giuseppe Conte klagte öffentlich: „Europa wird erpresst“. Er meinte die „Sparsamen Vier“, ein Quartett aus Österreich, Niederlande, Dänemark und Schweden, die beim 750 Milliarden Euro schweren Corona-Wiederaufbaufonds für niedrigere Zuschüsse kämpften. Statt bei 500 Milliarden Euro sollten die Subventionen bei maximal 350 Milliarden Euro liegen. Ein Affront aus Sicht der von der Coronakrise schwer gebeutelten Südeuropäer.

Der erbitterte Widerstand des „Klubs der Sparsamen“ ist zugleich ein Rückschlag für die Gestaltungsmöglichkeiten von Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Premier Emmanuel Macron. „Früher war es so, dass Deutschland und Frankreich etwas auf den Tisch gelegt haben und alle andere haben es dann abgenickt.“ So formulierte Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz die Machtverschiebung in einem Satz. Die Zeiten hätten sich geändert.
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Wie Europa unter diesen Umständen zukunftsfähig gestaltet werden soll, ist unklar. Das Signal ist jedenfalls verheerend: Selbst in der schwersten Krise nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gelingt es Europa nicht, an einem Strang zu ziehen. Die Frage, was Europa noch zusammenhält, muss neu diskutiert werden.
Wie wenig die Weltgemeinschaft das Coronavirus in den Griff bekommen hat, zeigen aktuelle Zahlen der Weltgesundheitsorganisation. Am Samstag meldete die WHO mit mehr als einer Viertelmillion Neuinfektionen den höchsten Tageswert seit Ausbruch der Pandemie. Weltweit wurden mittlerweile mehr als 14 Millionen Menschen mit dem Virus infiziert. Es ist eine Illusion zu glauben, das Schlimmste sei überstanden.
Die These gilt vor allem für die Vereinigten Staaten. Zuletzt lag die Zahl der Neuinfektionen bei mehr als 75.000 Menschen am Tag. Das katastrophale Krisenmanagement könnte Donald Trump im November das Präsidentenamt kosten. In einem Interview mit dem US-Sender Fox News ließ der US-Präsident offen, ob er eine Wahlniederlage akzeptieren würde: „Das muss ich sehen. Ich werde jetzt nicht einfach ja sagen“, sagte der US-Präsident. Die hohe Zahl der Neuinfektionen spielte er erneut herunter. Das seien „junge Leute, die einen Schnupfen haben“. Kaum vorstellbar, dass jemand zum US-Präsidenten gewählt wird, der die Wirklichkeit so systematisch ignoriert.

Deutschland wirkt mit nur gut 200 Neuinfektionen am Tag wie eine Insel der Glückseligen. Aber der Satz stimmt nur auf den ersten Blick. Tatsächlich frisst sich das Coronavirus weiter durch die Bilanzen vieler Unternehmen. Bilder von sogenannten Corona-Schiffen haben zu einem regelrechten Auftragsschwund bei den Werften geführt. Die weltbekannte Meyer Werft sieht sich gezwungen, von diesem Montag an für sechs Wochen den Betrieb zu schließen. Eine Rückkehr zur Normalität wird auch nach dieser Auszeit ein Wunschtraum bleiben.
Die Coronakrise hat viele Start-ups hart getroffen. Da, wo nicht nur die Gewinne ausbleiben, sondern auch die Umsätze, hat der Kampf ums Überleben begonnen. Umso erstaunlicher ist ein Trend, den meine Kollegin Larissa Holzki aufgespürt hat. Zwischen März und Mai sind in Deutschland knapp 300 neue Technologiefirmen gegründet worden, gute zehn Prozent mehr als zur gleichen Zeit im Vorjahr. Vor allem im Onlinehandel sowie im Medizin- und Bildungssektor wurden aus Ideen Unternehmen. Just dort, wo in der Corona-Pandemie die Defizite am sichtbarsten wurden.
Für Hendrik Brandis, Mitgründer des Risikogeldgebers Earlybird, sind die aktuellen Zahlen erst der Anfang einer deutschen Start-up-Ära. „Der eigentliche Gründerboom dürfte in den nächsten Monaten beginnen.“ Sein Argument: Für immer mehr Tech-Experten werde ein eigenes Start-up zu einer Alternative zur Karriere in einem angeschlagenen Konzern. „Not macht erfinderisch.“ Von solchem Unternehmertum kann Deutschland nicht genug haben.
Was genau zu dem überraschenden Doppelrücktritt von Commerzbankchef Martin Zielke und Aufsichtsratschef Stefan Schmittmann Anfang Juli geführt hat, ist weiter ziemlich unklar. Zumindest hatte es zuvor einen intensiven Austausch zwischen der Bundesregierung und dem Finanzinvestor Cerberus, den beiden größten Aktionären gegeben. Das geht aus einer Antwort des Finanzministeriums auf eine Anfrage des FDP-Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler hervor, die dem Handelsblatt vorliegt. Der Liberale vermutet, „dass der Bund vorab über die Cerberus-Attacke auf die Commerzbank informiert war und nichts daran auszusetzen hatte“.
Unterm Strich: Der Bund bestreitet, gemeinsame Sache mit dem US-Investor gemacht zu haben. Die Suche nach der Wahrheit geht weiter.

Und dann ist da noch Jan Marsalek. Der flüchtige Ex-Wirecard-Vorstand hat sich nach Informationen des Handelsblatts nach Russland abgesetzt. Der seit Wochen untergetauchte Manager sei auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Aufsicht des russischen Militärgeheimdienstes GRU untergebracht, erfuhr das Handelsblatt aus Unternehmer-, Justiz- und Diplomatenkreisen. Zuvor soll Marsalek erhebliche Summen in Form von Bitcoins aus Dubai, wo Wirecard dubiose Operationen betrieben hatte, nach Russland geschafft haben. Stimmen die Informationen, könnte sich der Wirecard-Betrugsskandal zu einem Polit-Thriller ausweiten.
Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Start in die Woche.
Herzliche Grüße
Ihr
Sven Afhüppe
Chefredakteur
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