Morning Briefing Plus: Der Bundestag zerlegt sich – und die Zukunft zieht an ihm vorbei

Liebe Leserinnen und Leser,
willkommen zurück zu unserem Blick auf eine historische Woche. Am Mittwoch verschaffte die AfD der Union noch eine Mehrheit im Bundestag. Es ging um einen Antrag, der zum Gegenstand hatte, die Migrationspolitik zu verschärfen. Am Freitag dann scheiterte das sogenannte Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag (auch an Gegenstimmen aus der Union). Doch die Zäsur bleibt.
Und die Aufregung ist groß. „Das ganze Manöver war umsonst und hat nur die Demokratie beschädigt“, findet Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge spricht von einem „Furor“ in der Debatte. Die CDU habe „die demokratische Mitte“ am Mittwoch verlassen, findet Innenministerin Nancy Faeser (SPD).

Dabei war es richtig, Migration zum Thema im Wahlkampf zu machen, die massiven Belastungen von Schulen, Kommunen, die wiederholten Gewalttaten. All das droht das gesellschaftliche Klima zu vergiften, auch wenn das Grüne und SPD nicht wahrhaben wollen.
Aber es war ein Fehler von Friedrich Merz, vor der Wahl konkrete Anträge und Gesetze in den Bundestag einzubringen, die wenig ändern werden. Merz hätte es am ersten Tag nach der Wahl tun können. So kann sich die AfD als Mehrheitsbeschafferin aufspielen.
Und es ist ein Fehler, den Wahlkampf so sehr auf dieses eine Thema zu verengen. Denn der Zustand der deutschen Wirtschaft ist vielen Menschen mindestens ebenso wichtig. Während der deutsche Bundestag über rote Linien streitet, wird die Zukunft in Sachen Künstlicher Intelligenz zwischen Peking und dem Silicon Valley ausgemacht.

Gleichzeitig macht sich Donald Trump daran, das Welthandelssystem für immer zu verändern. Vergangene Nacht verhängte er drastische Zölle auf Einfuhren aus Kanada und Mexiko. Das ist der Startschuss für einen neuen Handelskrieg.
Den Kontrapunkt zu all dem Wahnsinn habe ich diese Woche in München erlebt, bei unserer festlichen Gala für die Hall of Fame der deutschen Familienunternehmen, bei der das Handelsblatt jedes Jahr Unternehmerpersönlichkeiten auszeichnet.
Nun könnte man denken, dass dort ältere Herrschaften zusammenkommen und über frühere Zeiten sprechen. Doch diese Veranstaltung ist immer ein Feuerwerk aus Visionen und Ideen.
Besonders beeindruckt hat mich die Geschichte von Hans Beckhoff von Beckhoff Automation, der sein Unternehmen in der elterlichen Garage aufgebaut hat (auch wir können Garage!). Beckhoff, der Automatisierungslösungen für alle erdenklichen Industrien herstellt, sieht sein Unternehmen in scharfem Wettbewerb mit chinesischen Firmen, während hierzulande viele Unternehmen unter Bürokratie und schlechten Rahmenbedingungen leiden.

Aber er ist dennoch zuversichtlich für die nächsten Jahre, weil er sich auf seine eigene Innovationskraft verlässt. Beckhoff verlangt von seinen Mitarbeitern „jedes Jahr zwei Evolutionen und alle fünf Jahre eine Revolution“.
Mit solchen Unternehmern muss man sich keine Sorgen um die deutsche Wirtschaft machen. Nur sollte ihnen Berlin möglichst wenig im Weg stehen.
Was uns diese Woche sonst noch beschäftigt hat:
1. Es ist eine wunderbare Geschichte über Innovationen, Einfallsreichtum – und die Zukunft der Künstlichen Intelligenz: Eine Firma aus der chinesischen Provinz stellt mit einem neuen Sprachmodell die Führungsrolle der USA infrage. Das Unternehmen heißt Deepseek und es hat diese Woche für Erschütterungen bei KI- und Energiefirmen gesorgt. Wie es dazu kommen konnte, was das Deepseek-Modell wirklich kann – und warum Europa davon profitieren könnte, lesen Sie in unserer großen Analyse zum Wochenende.

2. Wie groß sind nun die Risiken an den Börsen? Welche KI-Werte sind nun anfällig für weitere Rückschläge? Peter Oppenheimer, der Chefaktienstratege von Goldman Sachs, wagt eine erste Prognose.
3. Als Großbritannien die EU verließ, hofften viele Briten auf eine neue Ära wirtschaftlicher Stärke und politischer Eigenständigkeit. Doch fünf Jahre später sieht die Realität anders aus. Der Wohlstand sinkt, die Industrie kämpft – und eine Mehrheit der Briten hält den Brexit für einen Fehler. Torsten Riecke und Carsten Volkery analysieren den aus meiner Sicht größten politischen Fehler der britischen Nachkriegsgeschichte.
4. In aufgeregten politischen Debatten lohnt immer ein Blick ins Ausland. Nach Dänemark zum Beispiel. Die dänische Regierung hatte 2019 die Devise „Null Asylbewerber“ ausgegeben. Premierministerin Mette Frederiksen verschärfte deshalb über 100 Gesetze und startete Kampagnen in Afrika und dem arabischen Raum, um Menschen davon abzuhalten, nach Dänemark zu flüchten. Außerdem profitiert das Land von einer EU-Sonderregel. Die Zahl der Asylbewerber sank dadurch drastisch: 2023 stellten nur knapp mehr als 2100 Menschen einen Asylantrag in Dänemark. Kann das ein Vorbild für eine deutsche Migrationspolitik sein?

5. Die von Donald Trump geplanten Zölle auf Autoimporte setzen Volkswagen unter Druck. Besonders betroffen wären Audi und Porsche. Beide Marken produzieren bislang ausschließlich außerhalb der USA. Nun prüft der Konzern den Ausbau des VW-Werks in Chattanooga im Bundesstaat Tennessee oder die Nutzung der geplanten Scout-Fabrik in South Carolina, berichtet unser Autoteam exklusiv.

6. Aggressiv auftretende Hedgefonds aus den USA suchen in Deutschland verstärkt nach Unternehmen für ihre Kampagnen. Sie steigen ein, drücken radikale Veränderungen durch, um sie dann mit Gewinn zu verkaufen. Angelockt werden die Aktivisten von der Schwäche des Standorts und der damit verbundenen niedrigen Börsenbewertung vieler Firmen. Hannah Krolle und Bert Fröndhoff haben die Details recherchiert.
7. Nicole Schilling ist die ranghöchste Soldatin der Bundeswehr. Im November hat Verteidigungsminister Boris Pistorius sie als erste Frau in der Geschichte der Bundeswehr zur Drei-Sterne-Generalin befördert. Meine Kollegen Kirsten Ludowig und Frank Specht trafen Schilling im Verteidigungsministerium in Berlin. Im Interview fordert sie schnellere Ausbildungswege und erklärt, was Deutschland tun muss, um im Kriegsfall seiner Rolle als Durchmarschgebiet mehrerer Hunderttausend Nato-Soldaten gerecht zu werden.

8. Über die deutsche Debattenkultur lässt sich lang diskutieren. Kaum einer kann das so klug wie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörsken. Im Handelsblatt-Interview warnt er vor einer neuen Ära der Propaganda. Er beklagt die Ignoranz wichtiger Themen im Wahlkampf, die Moralisierung vieler Debatten – und erklärt, warum Elon Musk so fasziniert.
9. Zum Start in das Jahr habe ich zusammen mit der Publizistin Miriam Meckel etwas Neues ausprobiert: In vier Sonderfolgen meines Podcasts Handelsblatt Disrupt (hier entlang) diskutieren wir bis zur Bundestagswahl die drängendsten Fragen zur Zukunft Deutschlands und Europas. Haben wir die richtigen Ideen für den notwendigen Wandel? Denken wir radikal und disruptiv genug? Und wer wagt es, das Undenkbare zu denken? Wir sprechen über mutige Konzepte, über Themen, die uns aufregen – und über Menschen, die uns Hoffnung machen. Wie finden Sie das neue Format? Schreiben Sie mir, wir freuen uns auf Ihr Feedback unter sebastian.matthes@handelsblattgroup.com.

Ich wünsche Ihnen ein schönes Wochenende.
Herzlich,



Ihr
Sebastian Matthes





