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Morning BriefingVerzockt: Liz Truss macht Boris Johnson möglich

Hans-Jürgen Jakobs 21.10.2022 - 06:00 Uhr Artikel anhören

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

in Politik und Wirtschaft ist die Kunst des Rücktritts weitaus weniger ausgeprägt als die Kunst des Narrativs. Die Ereignisse auf dem Feld des Schönredens haben eine beträchtliche Dynamik erreicht. In Großbritannien jedoch gab es für die konservative Premierministerin Liz Truss nach 44 Tagen rein gar nichts Positives mehr zu erzählen, nachdem sie die Finanzmärkte mit krudem Vulgär-Thatcherismus geschockt hatte.

Sie dankt mit Kurzzeitrekord ab, und alle freuen sich. Schon am nächsten Freitag – Devise: „Alles, nur keine Neuwahlen“ – soll der Nachfolger feststehen, der womöglich sogar ihr Vorgänger sein könnte, Partykracher Boris Johnson.

Die an italienische Verhältnisse erinnernde Mieterwechsel-Frequenz in 10 Downing Street haben den „Economist“ dazu animiert, das eigene Land auf dem Cover mit „Welcome to Britaly“ zu karikieren, wobei Mrs. Truss als römischer Centurion eine große Gabel mit Spaghetti hält. Den Vogel schoss zweifelsohne das Boulevardblatt „Daily Star“ ab, das im Livestream einen Salatkopf zeigte mit der Frage, wer wohl länger durchhalte: das Gemüse oder die Politikerin. Es siegte, kurz vorm Welk-Werden, der Salat.

In Deutschland haben die Konservativen einst auf Parteitagen für Angela Merkel gern „Angie“ von den Rolling Stones gespielt, in England werden sie demnächst „Dizzy, Miss Lizzy“ von den Beatles geben.

Noch überraschender erfolgt die Demission von Tina Müller, der so zupackenden wie optimistischen Vorstandschefin der Parfümeriekette Douglas, die fortan im Aufsichtsrat sitzt. Nach außen läuft der Wechsel auf den bei einem Discounter gereiften Sander van der Laan ganz freiwillig, in schönster Harmonie und mit Bert-Kaempfert-Happy-Feeling-Sound.

Doch ist aus der Kulisse auch anderes zu hören. Demnach wurde der Private-Equity-Player CVC, der Douglas bei der Übernahme mit Schulden überladen hat, doch recht nervös. Höhere Preise im Einkauf, für Paketdienste und für Energie könnten zu einem Rot in der Bilanz führen, dessen Knallfarbe es mit den Lippenstiften in den Douglas-Regalen aufnehmen könnte. Zumal weitere Ausgaben für die erfolgreiche Digitalisierung und für E-Commerce sowie die schwierige Integration des Apotheker-Geschäfts anstehen.

In dieser Lage und angesichts der drohenden Rezession setzt CVC-Matador Alexander Dibelius auf beinharte Controller-Qualitäten. Das Motto für solche Strategien hat Amazon-Gründer Jeff Bezos ausgegeben: „batten down the hatches“, die Luken dichtmachen.

Wenn wir schon bei Rücktritten sind, fällt der Blick auf Adidas und seinen scheidenden CEO Kasper Rorsted. Er hat den Ruhm als „Manager des Jahres 2019“, damals begründet vom „Manager Magazin“, komplett aufgebraucht. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Monaten muss der fränkische Sportartikelkonzern, der mal besser in der Welt (China) zu Hause war, eine Gewinnwarnung herausgeben. Auf einmal soll der Überschuss 2022 bei nur noch 500 Millionen Euro liegen.

Zuvor hatte Rorsted die Planung von 1,8 Milliarden auf 1,3 Milliarden korrigiert, was immerhin noch in der Nähe des 2021er-Gewinns von 1,49 Milliarden lag. Nun dürfte in Herzogenaurach die Hoffnung auf angestoßene Kostenfitnessprogramme größer sein als auf Sportartikelverkäufe rund um die Winter-Fußball-WM in Katar.

Die Affäre um Patricia Schlesinger, zurückgetretene Intendantin des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB), taucht in einer Zeitschleife wieder auf. Das ist unvermeidlich, denn die vom Sender zwecks Aufklärung beauftragte Kanzlei Lutz Abel hat einen Zwischenbericht vorgelegt. Die Resultate decken sich nicht mit dem Bild der verfolgten Unschuld, das Schlesinger selbst im „Zeit“-Interview zu vermitteln suchte.

  • Bei Abrechnungen für Abendessen auf RBB-Kosten in Schlesingers Wohnung fehle es „generell an der Abrechnungsfähigkeit der in Rede stehenden Abendessen, da der dienstliche Anlass nicht entsprechend den Vorgaben der DA (Dienstanweisung) Bewirtung dokumentiert wurde und anhand der Belege nicht prüfbar ist“, so die Juristen.
  • Eine Reise nach London zum „Sheriff’s Ball“ im September 2021, die der RBB zahlte, sei „insgesamt nicht dienstlich veranlasst“ gewesen.
  • Den ersten beiden Dienstverträgen Schlesingers aus den Jahren 2016 und 2018 mangele es an einem „wirksamen Verwaltungsratsbeschluss“. Sie seien fehlerhaft. Auch beim dritten Vertrag (2021) hätte es aus juristischer Sicht „sowohl Verfahrens- als auch Inhaltsmängel“ gegeben.

Aus der Detektivarbeit ergibt sich, dass Verwaltungsratschef Wolf-Dieter Wolf, eine Immobiliengröße im Berliner Filz, eigenmächtig herrschte wie früher die Leute der „Neuen Heimat“. Gespannt sein darf man auf die nächsten Berichte zu Bau-Machenschaften.

Seine „Richtlinienkompetenz“ hilft Olaf Scholz, wenn sich Robert Habeck und Christian Lindner wie Kesselflicker streiten. Im Verhältnis zu Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron aber stehen dem Bundeskanzler nur andere Kategorien zur Verfügung – Diplomatie, Gespür, Empathie zum Beispiel. Vielleicht hat sich der Sozialdemokrat ja zu sehr im „Ampel“-Antagonismus aufgerieben, vielleicht fehlt ihm auch das Geschick seines Idols Helmut Schmidt („Nichts ohne Frankreich!“). Wie sonst ist zu erklären, dass das deutsch-französische Verhältnis einen Tiefpunkt erreicht hat – ausgerechnet mitten in Europas Abwehrkampf gegen einen Putinismus, der zunehmend an den Stalinismus alter Zeit erinnert. Deutliches Zeichen des Konflikts ist die Absage der gemeinsamen Kabinettssitzung der deutschen und französischen Minister nächste Woche in Schloss Fontainebleau.

Foto: IMAGO/Christian Spicker

Auch auf dem aktuellen EU-Gipfel treten die unterschiedlichen Interessen deutlich zu Tage. Da ist auf der einen Seite Macron, der europäische Träumer, der warnend verkündet, es sei „nicht gut für Europa“, wenn Deutschland „sich isoliert“, also eine eigene Gaspreisdeckelpolitik mache und den Wettbewerb verzerre. Da ist auf der anderen Seite Scholz, Rationalist mit Aversion, sich vereinnahmen zu lassen, der trotzig darauf besteht, dass Deutschland „sehr solidarisch gehandelt hat“ und mit dem „Abwehrschirm“ von bis zu 200 Milliarden Euro „genau das gleiche“ wie Frankreich, Italien, Spanien und viele andere Länder mache. Anders als Macron und die meisten EU-Länder lehnt er aber einen europäischen Gaspreisdeckel ab.

An Dissonanzen fehlt es nicht, etwa wenn man sich gegenseitig Klumpenrisiken (EDF-Atomkraft, Russen-Gas) vorwirft. Oder wenn man in der Verteidigung auseinanderliegt: Deutschland kauft US-Kampfjets und organisiert das Luftverteidigungssystem „European Sky Shield Initiative“ ohne Paris. Frankreich wiederum setzt auf die gemeinsame Entwicklung des Kampfflugzeugsystems FCAS.

Foto: dpa

Und schließlich stößt die Selbstgefälligkeit auf, mit der Scholz seine China-Reise am 4. November plant – und wie sein Kanzleramt eine Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco am Hamburger Hafenlogistiker HHLA befürwortet. Gleich sechs deutsche Fachministerien, BND und Verfassungsschutz warnen vor dem Deal. „Keine kritische Infrastruktur in Deutschland soll unter die Kontrolle der chinesischen Regierung kommen“, sagt Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). In Brüssel auf dem EU-Gipfel wollen bezeichnenderweise fast alle darüber reden, wie die Abhängigkeit von China reduziert werden kann.

Manfred Weber (CSU), Chef der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, ist nah genug dran, um sich ein Urteil über die Mesalliance mit Frankreich zu erlauben. Deutschland werde als Blockadeland wahrgenommen, sagt er: „Es ist viel, viel Porzellan zerschlagen worden.“

Und dann ist da noch der anstehende Wechsel bei diesem Morning Briefing nach viereinhalb Jahren, noch so ein Rücktritt und eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, tippend am Schreibtisch. Meine Gedanken hierzu und über die Entwicklung des Journalismus generell habe ich in unserer Zeitung zusammengefasst, ganz im Bewusstsein, dass „Abschiedsworte so kurz sein müssen wie eine Liebeserklärung“ (Theodor Fontane).

Mein dementsprechender Dank gilt allen, die es ausgehalten, vielleicht sogar genossen haben, meine Freude dem wärmenden Feedback. Es war eine großartige Zeit mit Ihnen. Als Autor werde ich dem Handelsblatt erhalten bleiben. Von „ashes to ashes“ also keine Rede, sondern nur davon, dass die Flamme weitergetragen wird – künftig von Hauptautor Christian Rickens und Stellvertreterin Teresa Stiens. Und nun: Verbeugung, Vorhang zu.

Es grüßt Sie herzlich

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Hans-Jürgen Jakobs

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