Morning Briefing: Kommt der Spuk an den Börsen etwa schon wieder zurück?

Analyse: Wieviel Wachstum bringt Schwarz-Rot wirklich?
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser!
Der Koalitionsvertrag der schwarz-roten Koalition ähnelt für mich einem dieser Wimmelbücher von Ali Mitgutsch: Auf jeder Seite gibt es ganz viel Spannendes, Kurioses und manchmal auch Gruseliges zu entdecken. Aber nach dem Umblättern weiß man vor lauter Details oft gar nicht mehr: War auf dem letzten Bild eigentlich ein Bauernhof oder ein Biergarten zu sehen?
So ähnlich verhält es sich mit dem Koalitionsvertrag. Man kann ihn interessiert durchlesen und hat doch kein Gesamtbild vor Augen. Klar, die Koalitionäre behaupten gleich zu Anfang, dass es ihnen vor allem um ein höheres Wachstumspotenzial für Deutschland gehe. Aber sind die vielen Einzelmaßnahmen auf den 144 Seiten wirklich dazu geeignet, dieses Ziel zu erreichen? Oder ist statt des produktiven Bauernhofs doch eher der entspannte Biergarten das Leitmotiv von Union und SPD – Bier und Brez'n für alle?
Da hilft nur: ganz genau hinschauen. Die Kollegen der Handelsblatt-Hauptstadtredaktion haben entlang ihrer jeweiligen Fachgebiete den Koalitionsvertrag durchanalysiert, mit Expertinnen und Experten gesprochen und die Frage beantwortet: Wird dieser schwarz-rote Arbeitsplan Deutschland nach vorne bringen?
Aufweichung der Schuldenbremse beginnt
Der größte Wachstumsimpuls allerdings wird erst einmal vom schuldenfinanzierten 500-Milliarden-Infrastrukturprogramm ausgehen und von den ebenfalls mit zusätzlichen Schulden finanzierten höheren Verteidigungsausgaben. Schon jetzt bestätigt sich die Befürchtung vieler Schuldenbremsen-Verfechter: Sind die Investitionen erst einmal in einen Sondertopf ausgelagert, lassen sich aus dem regulären Haushalt umso beherzter Bier und Brez'n verteilen – sprich staatlicher Konsum und Wohltaten für einzelne Interessengruppen finanzieren.

Das mit dem Bier und den Backwaren darf man übrigens wörtlich nehmen: Allein die geplante Senkung der Umsatzsteuer für die Gastronomie wird den Staat drei bis vier Milliarden Euro kosten. Laut der Finanzwissenschaftlerin Dominika Langenmayr „ein ökonomisch nicht zu rechtfertigendes Ärgernis“.
Wichtige Themen werden aufgeschoben
Ein weiteres Ärgernis dieses Koalitionsvertrags ist die um sich greifende Kommissioneritis: Für viele Themen, bei denen besonders dringender Reformbedarf besteht und die Optionen längst auf dem Tisch liegen, werden nun noch einmal Kommissionen eingesetzt – etwa zur besseren Verzahnung von Sozialleistungen wie Bürger- und Wohngeld, zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung oder zur Pflege.
Man erkennt die Absicht: Die Koalitionäre konnten sich in diesen Punkten offenbar nicht einigen und verschieben die Problem nun mit einem Beratungsgremium noch einmal ein paar Jahre in die Zukunft.
Aus gutem Grund gibt es in keinem Wimmelbuch das Motiv „Die Expertenkommission übergibt ihren Abschlussbericht“.

Finanzminister Kukies lobt Koalitionsvertrag
Noch-Finanzminister Jörg Kukies (SPD) gehört zu den interessantesten Politikern dieser Übergangsmonate – gerade, weil er gar kein waschechter Politiker ist. Bevor ihn der damalige Finanzminister Olaf Scholz 2018 als Staatssekretär in sein Ministerium holte, war Kukies Investmentbanker bei Goldman Sachs. Und allzuviele Personen, die wie Kukies in Finanzwissenschaften an der University of Chicago promoviert haben, gibt es in der deutschen Politik auch nicht.
Die gängige Lesart lautet: Kukies mag als Finanzminister fast schon überqualifiziert sein, er wird auf diesem Posten dennoch demnächst SPD-Chef Lars Klingbeil weichen müssen. Das hält Kukies aber nicht davon ab, im Handelsblatt-Interview mit Verve den Koalitionsvertrag zu verteidigen:
Auf die Frage meiner Kollegen, ob er Interesse habe, auch in der nächsten Bundesregierung im Finanzministerium zu bleiben, antwortet er ausweichend:
Zu den Zollkapriolen von Donald Trump äußert Kukies ziemlich klare Ansichten – für ausgestanden hält er das Problem mit Trumps jüngstem 90-Tage-Aufschub jedenfalls nicht:

US-Börsen schon wieder im Rückwärtsgang
Kommt der Spuk nochmal zurück? Das ist auch die zentrale Frage, die derzeit die Akteure an den Finanzmärkten umtreibt.
Wieviel Unsicherheit dort noch immer herrscht, lässt sich auch daran ablesen, dass die US-Börsen nach ihrer fulminanten Rallye vom Mittwoch gestern schon wieder den Rückwärtsgang einlegten: Der Dow Jones Industrial schloss 2,5 Prozent tiefer, der marktbreite S&P 500 gab um 3,5 Prozent nach. Für den technologielastigen Nasdaq 100 ging es um 4,3 Prozent abwärts. Auch die besser als erwarteten Inflationsdaten aus den USA konnten die Erholung nicht weiter antreiben.

Nach dem Zollstreit ist vor dem Zollstreit
Laut unseren Finanzmarkt-Spezialisten Astrid Dörner und Andreas Neuhaus sehen viele Börsianer derzeit zwei Szenarien:
Mit ziemlicher Sicherheit würden die Aktienmärkte in diesem Worst Case erneut in einen Bärenmarkt eintreten, definiert als: ein Kursrutsch von mindestens 20 Prozent unter das bisherige Rekordhoch. Die entscheidende Frage, so habe ich von meinen beiden Kollegen gelernt, lautet dann: Mit welcher Art von Bärenmarkt hätten wir es zu tun?

Das wäre natürlich bitter. Andererseits: Mit einem kürzeren Zeithorizont als zehn Jahre sollten Privatanleger ohnehin besser die Finger von Aktien lassen.
Ich wünsche Ihnen einen entspannten Wochenausklang! Vielleicht träumen Sie ja von einem besonders schönen Bärenmarkt, auf dem nur die allerpossierlichsten Exemplare feilgeboten werden.






Herzliche Grüße,
Ihr
Christian Rickens





