Corona Rückt der Freedom Day näher? Was das Ende der „epidemischen Lage“ bedeutet

Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will ein Ende der epidemischen Notlage. Nicht überall findet er dafür Zuspruch.
Berlin Seit mehr als eineinhalb Jahren bestimmt die durch den Bundestag beschlossene „epidemische Lage nationaler Tragweite“ die Corona-Politik. Nun könnte sie im November auslaufen. Dafür sprach sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in einer Runde mit den Gesundheitsministern der Länder am Montag aus – und erhielt dafür von Verbänden und anderen Parteien viel Zuspruch.
Unklar allerdings ist, wie mit dem Auslaufen der Coronanotlage die bestehenden Corona-Maßnahmen fortbestehen können. Die wichtigsten Fragen im Überblick.
Wie Spahn seine Forderung begründete
Spahn sagte in der Runde mit seinen Länderkollegen, dass das Risiko laut Robert Koch-Institut (RKI) für geimpfte Personen moderat sei. Angesichts der Impfquote könne die epidemische Lage deswegen Ende November auslaufen.
Das Gesetz muss alle drei Monate vom Bundestag verlängert werden. „Damit wird ein seit dem 28. März 2020 und damit mithin seit fast 19 Monaten bestehender Ausnahmezustand beendet.“
Spahn sagte allerdings auch, dass Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln sowie die 3G-Regel weiterhin bestehen sollten. Durch sie erhalten nur Geimpfte, Genesene und Getestete Zugang zu Einrichtungen, Geschäften und Restaurants. In einigen Bundesländern sind auch Getestete davon ausgenommen (2G).
Wer über die „epidemische Lage“ entscheidet
Der Bundestag hatte die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ erstmals im März 2020 zu Beginn der Pandemie festgestellt und danach immer wieder verlängert, zuletzt Ende August für drei Monate. Sie läuft aus, wenn sie vom Parlament nicht verlängert wird.
Was die „epidemische Lage“ regelt
Die „epidemische Lage“ gibt Bundes- und Landesregierungen Befugnisse, um Verordnungen zu Corona-Maßnahmen oder zur Impfstoffbeschaffung zu erlassen. Festgehalten ist das im Infektionsschutzgesetz, das im Zuge der Pandemie mehrfach geändert worden war.
Demnach liegt eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ dann vor, „wenn eine ernsthafte Gefahr für die öffentliche Gesundheit in der gesamten Bundesrepublik Deutschland besteht“. Im Infektionsschutzgesetz werden außerdem konkrete Maßnahmen genannt, die „zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019“ für die Dauer der Feststellung einer solchen Lage ergriffen werden können.
Darunter folgt eine lange Liste der Maßnahmen, die den Alltag der letzten beiden Jahre geprägt haben: Abstandsgebote, Maskenpflicht, Pflicht zur Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises, Kontaktbeschränkungen, Verpflichtung zu Hygienekonzepten, Beschränkung von Freizeitveranstaltungen, Sport.
Wer sich für das Ende der „epidemischen Lage“ ausspricht
Unter den möglichen Ampel-Koalitionären Grüne und FDP sind die Pläne von Spahn weitestgehend unumstritten. Die beiden Fraktionen forderten bereits bei der Debatte im August, die epidemische Lage auslaufen zu lassen. „Die Voraussetzungen für die epidemische Lage nationaler Tragweite sind schon lange nicht mehr gegeben“, sagte der FDP-Fraktionsvize Michael Theurer dem Handelsblatt.
Die SPD äußerte sich hingegen zurückhaltend. „Jens Spahn hat seine persönliche Sicht auf die Dinge geäußert, was besonders gehört wird, weil er noch geschäftsführender Bundesgesundheitsminister ist“, sagte die Gesundheitsexpertin der Partei, Bärbel Bas, dem Handelsblatt – und verwies darauf, dass die Entscheidung beim Bundestag liege.
Jedoch sei es zu kurz gegriffen, nur auf die Impfquote zu schauen. „Nicht umsonst haben wir ja auch andere Parameter, wie die Hospitalisierungsinzidenz, ins Gesetz geschrieben“, sagte sie. „Die rechtlichen Möglichkeiten für bestimmte Schutzmaßnahmen der Länder, wie etwa das Tragen von Masken, sollten aber in jedem Fall erhalten bleiben.“
Der Vorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, stellte sich hinter Spahns Plan. Angesichts der hohen Impfquote in Deutschland dürfte es nicht mehr erforderlich sein, dass der Bund über die Länderkompetenzen hinweg Maßnahmen zur Pandemie-Kontrolle beschließe, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Ich rechne auch für den Herbst und Winter nicht mehr mit vergleichbar hohen Covid-Patientenzahlen in den Krankenhäusern wie in der zurückliegenden Zeit.“
Welche Folgen das Ende der „epidemischen Lage“ hätte
Fraglich ist, wie die bestehenden Corona-Maßnahmen wie die 3G-Regel und die Maskenpflicht fortbestehen können, wenn die Corona-Notlage ausläuft. Sie müssten in reguläre Gesetze und Verordnungen überführt werden, sagte FDP-Fraktionsvize Theurer. „Man wundert sich ja schon, dass der Gesundheitsminister sich für ein Auslaufen ausspricht, ohne die notwendigen Überführungsregelungen vorzulegen“, sagte er.
Auch der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen zeigte sich optimistisch, dass der Bundestag auch für den Winter Schutzmaßnahmen wie eine Maskenpflicht und 3G-Regeln ermöglichen werde.
Unter den Bundesländern herrscht die Sorgen, dass nach dem Auslaufen der „epidemischen Lage“ die Rechtsgrundlage für Infektionsschutzverordnung wegfällt. Liefe sie aus, wäre der Freedom Day die indirekte Folge, warnte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU).
Sein Parteikollege, Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek, forderte deswegen einen einheitlichen Rechtsrahmen, um weiterhin Maßnahmen ergreifen zu können. Da sei die künftige Koalition jetzt gefordert. „Ein Auslaufenlassen der epidemischen Lage müssen wir klug abwägen – gerade bei steigenden Infektionszahlen im Winter“, teilte Holetschek mit.
Denn für Corona-Maßnahmen sind im Grunde die Bundesländer selbst zuständig. Sie legen Abstands-, Veranstaltungs- und Maskenregeln in eigenen Verordnungen fest.
Der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart sieht nach dem Auslaufen der „epidemischen Lage“ nur noch in jenen Bundesländern eine Grundlage für Corona-Maßnahmen, die ein entsprechendes Infektionsgeschehen feststellen. Degenhart verweist auf den Paragraphen 28a im Infektionsschutzgesetz, in dem die typischen Corona-Maßnahmen wie Zugangsbeschränkungen, Maskenpflicht und Abstandhalten an die „epidemische Lage“ geknüpft sind.
Fällt diese weg, haben demnach die Landtage die Möglichkeit, einzelne Maßnahmen zu treffen und eine „epidemische Lage von regionaler Tragweite“ zu beschließen. „Bundesweit gibt es nach dem Auslaufen der epidemischen Lage allerdings nach meiner Einschätzung keine Grundlage mehr für die genannten Maßnahmen“, sagte er dem Handelsblatt. „Diese müssten dann aufgehoben werden.“
Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, sieht hingegen in Spahns Ankündigung das Ende der Corona-Maßnahmen näher rücken. „Ab Ende November könnten die staatlichen Corona-Regeln entfallen“, sagt er. „Diese Vorlaufzeit von sechs bis sieben Wochen ist notwendig, damit sich mehr Menschen impfen lassen können.“ Der Freedom Day – also das Ende aller Corona-Maßnahmen – rücke also schrittweise näher.
Ab wann wäre das Ende aller Maßnahmen denkbar?
Das RKI plädiert für Maske, Abstand, Hygiene und weitere Basismaßnahmen bis Frühjahr 2022. In einem Strategiepapier schreibt das Institut, Deutschland sei noch in der Übergangsphase, bis Corona endemisch werde. Das bedeutet, das Virus verschwindet zwar nicht, verursacht aber bei den meisten Menschen keine allzu schwerwiegenden Verläufe mehr, da sie durch Infektionen oder Impfung eine Grundimmunität haben.
Wann der Übergang abgeschlossen sein wird, lässt sich laut RKI jedoch nicht mit Bestimmtheit voraussagen. Manche Experten finden auch, dass es in der Debatte weniger um ein mögliches Datum für einen „Freedom Day“ gehen sollte. Vielmehr müsse sich die Gesellschaft fragen, wie viele Tote und Langzeiterkrankte man bereit sei, für Öffnungen in Kauf zu nehmen.
Wie sich die Corona-Lage entwickelt
Die Infektionszahlen steigen seit vergangener Woche wieder leicht an. Das RKI meldete am Dienstag eine Sieben-Tage-Inzidenz von 75,1 im Vergleich zu 74,4 am Vortag. Der für Corona-Maßnahmen wichtigste Indikator, die Hospitalisierungsinzidenz, sank laut RKI von 2,02 auf 1,92. Der Wert gibt die Zahl der ins Krankenhaus eingewiesenen Corona-Patienten pro 100.000 Einwohner an.
Ein bundesweiter Schwellenwert, ab wann die Lage kritisch zu sehen ist, ist für die Hospitalisierungs-Inzidenz unter anderem wegen großer regionaler Unterschiede nicht vorgesehen.
Mit Agenturmaterial.
Mehr: Mehr Geimpfte als gemeldet: Was das für die Corona-Politik bedeutet
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.