Regierungserklärung „Hinterher alles zu wissen, ist mühelos” – Welche Schlüsse die Kanzlerin aus dem Afghanistan-Debakel zieht

Die Kanzlerin und die Afghanistanfrage: Kein Kritik an Außenminister und Verteidigungsministerin.
Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte bei ihrer Regierungserklärung zur Lage in Afghanistan keine wirkliche Reue, räumte allerdings ein, die Lage dort falsch eingeschätzt zu haben. Die Entwicklung in Afghanistan sei „bitter, furchtbar“, eine „Tragödie“, sagte die Kanzlerin am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung im Bundestag. Im Nachhinein sei es allerdings immer einfacher, die Situation zu bewerten.
Merkel kündigte eine Aufarbeitung der Hintergründe des Desasters an, vor allem beim Umgang mit ehemaligen afghanischen Mitarbeitern von Bundeswehr und Bundesministerien. Die unter politischem Druck stehenden Minister Heiko Maas (SPD) und Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) erwähnte Merkel namentlich nicht. Rücktrittsforderungen aus der Opposition wies sie jedoch indirekt zurück. Für abschließende Antworten werde man Zeit brauchen, „und diese Zeit sollten wir uns nehmen“. Priorität hätten jetzt die Rettungsflüge.
Angesichts des bevorstehenden Abzugs der US-Truppen kündigte Merkel das Ende der Luftbrücke „in einigen Tagen“ an. US-Präsident Biden hatte sich geweigert, den Abzugstermin über den 31. August hinaus zu verschieben. In Kabul halten sich nach Angaben des Auswärtigen Amts noch immer mehr als 200 deutsche Staatsbürger auf.
Mit der Weltbank hat jetzt eine weitere Organisation ihre Finanzhilfen für Afghanistan eingefroren. Zuvor hatten bereits der Internationale Währungsfonds (IWF), die EU und auch die Bundesregierung ihre Hilfsgelder für das Land gestoppt.
Am Ende der Rede versuchte es Angela Merkel mit einem Pathos, das für die sonst so nüchterne Bundeskanzlerin gänzlich untypisch ist. „Man kann den Drang der Menschen nach Frieden und Freiheit in Afghanistan nicht unterbinden“, sagte Merkel. Nicht mit „Gewalt“, nicht mit „Ideologie“. Man dürfe Afghanistan nicht aufgeben, forderte die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung. Und: „Der 20-jährige Einsatz der Bundeswehr und der Nato-Staaten in Afghanistan ist nicht umsonst gewesen.“
Merkel kündigt Ende der Luftbrücke „in einigen Tagen“ an
Das klang nach einer Beschwörung – und auch die Hypothese, dass sich „Frieden und Freiheit“ durchsetzen werden, wirkt angesichts der chaotischen und verzweifelten Lage der Menschen in Afghanistan zumindest gewagt. Die Uno spricht inzwischen von „schweren Menschenrechtsverletzungen“ und „Gruppenhinrichtungen“ durch die Taliban.
Entsprechend gereizt reagierte die Opposition auf Merkels Rede: FDP, AfD, Linke und Grüne übten scharfe Kritik an der Bundesregierung und forderten personelle Konsequenzen. Sowohl Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch warfen der Bundesregierung ein „Desaster“ vor, weil man die afghanischen Ortskräfte alleingelassen habe.
Linke und Grüne hätten bereits im Juni dazu aufgefordert, die Ortskräfte auszufliegen, betonten beide. Baerbock sprach von schweren Versäumnissen des Außen-, Finanz-, Innen- und Kanzleramtsministers sowie der Verteidigungsministerin. FDP-Chef Christian Lindner forderte ebenso wie Baerbock einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung – wobei die Grünen noch in dieser Legislaturperiode ein Votum wollen.
Trotz aller Kritik stimmte der Bundestag mehr als eine Woche nach Beginn der Evakuierungsaktion der Bundeswehr mit großer Mehrheit dem Einsatz von bis zu 600 Soldaten nachträglich zu. Die Abgeordneten billigten das bis zum 30. September befristete Mandat am Mittwoch mit 539 Stimmen. Neun Abgeordnete stimmten dagegen, 90 enthielten sich.
Mit dem Mandat schafft der Bundestag nachträglich die rechtliche Grundlage für einen Einsatz. Das Parlament muss jedem bewaffneten Einsatz der Bundeswehr zustimmen. In Ausnahmefällen ist das auch nachträglich möglich, vor allem, wenn Gefahr in Verzug ist.
Das trifft nach Ansicht der Bundesregierung auf die Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Helfer von Bundeswehr und Bundesministerien zu. Es handelt sich um eine schwierige Mission. Vor allem seitdem klar ist, dass die US-Truppen definitiv am Ende des Monats abziehen.
Rettung mit Enddatum
Handlungsfähigkeit und Einigkeit wollte der Westen mit seinem am Dienstag eilig einberufenen Sondergipfel der sieben Industriestaaten demonstrieren. Doch US-Präsident Joe Biden beharrt trotz aller Bitten seiner europäischen Partner auf einem Abzug der US-Truppen zum 31. August. Die europäischen Nato-Verbündeten mussten sich fügen. Ohne eine Absicherung des Kabuler Flughafens durch US-Militärs ist eine Evakuierung von ausländischen Staatsbürgern und deren afghanischen Helfern nicht denkbar
Und so hat jetzt ein Wettrennen gegen die Zeit begonnen. Westliche Regierungen setzten am Mittwoch mit Hochdruck ihre Evakuierungsflüge fort. In „einigen Tagen“, so formulierte es die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung, wird die Bundeswehr die Rettungsflüge aus Kabul einstellen. Intern rechnet die Bundesregierung damit, dass es bis dahin nicht gelungen sein wird, die Evakuierungen abzuschließen.
Noch immer befinden sich Deutsche und andere Europäer in Afghanistan, darunter auch Angestellte der Nato und der EU. Hinzu kommen Afghanen, die den westlichen Bündnispartnern bei dem vergeblichen Versuch halfen, am Hindukusch einen demokratischen Rechtsstaat auszubauen, und nun Racheakte der Taliban fürchten müssen.
Die Bundeswehr habe bei der bisher größten Luftbrücke ihrer Geschichte schon mehr als 4600 Menschen evakuiert, sagte die Kanzlerin. Dass sich noch immer mehr als 200 den Behörden bekannte deutsche Staatsbürger in Kabul aufhalten und deren Zahl sogar höher ist als noch am Vortag, liegt laut Auswärtigem Amt daran, dass „sich weiterhin Menschen bei uns melden“, so ein Sprecher der Behörde am Mittwoch. 540 Deutsche seien bereits ausgeflogen worden. Am Dienstag hatte Außenminister Heiko Maas von rund 100 Deutschen vor Ort und ihren Familien gesprochen.
Wie viele der Betroffenen neben der deutschen auch die afghanische Staatsbürgerschaft haben, werde nicht erfasst, weil es für die Frage, ob jemand berechtigt sei zur Teilnahme an der Evakuierungsmission, keinen Unterschied mache. Er räumte aber ein, dass es für die Bewegungsfreiheit der Betroffenen im von den Taliban kontrollierten Kabul relevant sein könne. „Das ist ein Faktor, den man berücksichtigen muss.“ Die Taliban wollen keine afghanischen Staatsbürger zum Flughafen durchlassen.
Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass sich in Kabul insgesamt noch eine „hohe vierstellige oder niedrige fünfstellige Zahl“ schutzbedürftiger Menschen befindet, die grundsätzlich für eine Evakuierung infrage kämen. Nicht wenige Europäer zeigen sich enttäuscht von der Haltung des US-Präsidenten.
Biden habe in Europa „eine Menge Vertrauen“ verspielt, kritisierte der Grünen-Europapolitiker Reinhard Bütikofer. Nach dem Abzug der westlichen Truppen gelte es, zumindest eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Dafür sollte Biden „zusammen mit der Europäischen Kommission so bald wie möglich eine internationale humanitäre Konferenz zu Afghanistan organisieren“, forderte Bütikofer.
Biden selbst zeigt sich optimistisch: Die amerikanischen Kräfte seien auf Kurs, die Evakuierungen bis zum Monatsende abschließen zu können. Sorgen machen den Amerikanern vor allem Sicherheitsfragen. Biden befürchtet, dass die Terrororganisation IS das Chaos in Kabul für einen Anschlag nutzt. Auch das Bundesverteidigungsministerium warnt, dass nun die gefährlichste Phase der Rettungsmission begonnen habe.
Vorbereitung auf Flüchtlinge
Die bittere Wahrheit über den Abzug sprach Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in seiner Eingangsrede aus: „In wenigen Tagen ist zusammengebrochen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte aufgebaut haben.“
Eine Folge des Afghanistan-Debakels dürften mehr afghanische Flüchtlinge mit Ziel EU sein. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mahnt daher eine rasche Verständigung auf die von ihrer Behörde erarbeiteten Maßnahmen an: „Die Ereignisse, die wir in diesen Tagen erleben, zeigen allesamt, wie dringend notwendig es ist‚ dass die Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament eine Einigung über das von uns vorgeschlagene Migrations- und Asylpaket erzielen.“
Afghanistan, so viel ist klar, wird künftig weniger Amerikas, sondern zunehmend Europas Problem sein. Die USA wollen mit all den Geschehnissen in Afghanistan nach 20 Jahren Krieg nichts mehr zu tun haben. Biden formuliert die neue Linie in Washington so: „Welches Interesse haben wir in Afghanistan jetzt, da al-Qaida weg ist?
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In Berlin nennt man das "Mä(e)rkische Viertel" das "merkwürdige Viertel". Für mich trifft dies auf das aktuelle Bundeskabinett und entsprechenden Vorgänger(innen) (von der Leyen (voll der Leiden) voll zu. Maas (SPD), Kramp(e)-Karrenbauer (CDU), Scheuer (CSU), Spahn (CDU) etc.. Keiner dieser Versager(innen) ist zurückgetreten bzw. entlassen worden. Merkel und ihre Raute hat alles verhindert bzw. lahmgelegt. Aber was ist die Alternative? Für mich nur Friedrich Merz oder Edmund Steuber (in dieser Reihenfolge).
Zum Kommentar von Herr Hans August Karl Dieter Edelmann: SolltenSie ein Problem mit meiner Wortwahl haben- es gibt den Duden- der erklärt Ihnen was "scharwenzeln" meint. Letztendlich ein Adjektiv das die gesamte Regierungszeit dieser Kanzlerin wohl treffend beschreibt.
Hinterher all es zu wissen, ist in der Tat mühelos. Aber dieser Ausspruch selbst ist ein allgemein Platz, denn genau das macht eine gründlichen und wissenschaftlich betriebene Politik aus: zutreffende Prognostik und Antizipation.
Dass den Ausgang der Afghanistan-Mission niemand vorhergesagt habe, dass es keine Warnungen gegeben habe, ist reichlich untertrieben. Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen - und nicht nur seit einem Jahr, sondern seit dem Moment, in dem das klare Kriegsziel der Neutralisierung der Topterroristen immer vageren "Projektvorstellungen" wich. Erst war es die Austrocknung der Terrorcamps und schließlich "nation building". Insbesondere Letzteres gehört nicht in den Aufgabenbereich der Streitkräfte.
Wie schon so oft in der Merkelschen Politik "fuhr man auf Sicht" - oder anders ausgedrückt: Man stocherte im Nebel. Auf das deutsche Volk warten noch weitere "Überraschungen" dieser Strategie in der Europapolitik, der Energiepolitik, der Finanzpolitik usw. Man kommt wahrscheinlich um kein Politikfeld herum, dass nicht in der Paralyse Merkelscher Angriffsflächenminimierung gefangen worden wäre. Immerhin schaffte Merkel es damit ihre Regierungszeit auf 20 Jahre zu optimieren.
Natürlich wird Deutschland wieder alle Flüchtlinge aus Afghanistan bekommen, es gibt die beste Versorgung auf Lebenszeit. Fragt doch niemand ob diese Menschen zu integrieren sind und jemals arbeiten werden. Die Amerikaner haben in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen die Kriege begonnen und die Last der verlorenen Kriege tragen die Europäer und insbesondere Deutschland, das gelobte Land für alle Migranten. Wer einmal hier ist bleibt hier. Und wen soll ich nun wählen im September?
https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed_Daud_Daud
Es ist ekelerregend, ein ehemaliger korrupter Polizeichef welcher in grossen Stil mit Drogen handelte wurde von der Bundeswehr geschützt.
http://www.whywar.at/folgen/mensch-politik-und-gesellschaft/menschenrechte/folter/folter-in-afghanistan/
Warum haben die "Ortskräfte" jetzt wohl nur solche Angst vor den Taliban?
Haben diese auch mitgefoltert?
https://www.n-tv.de/politik/Brutaler-als-im-Irak-article77893.html
Ein Untersuchungsausschuss muss installiert werden. Dann kommt auf, wie viel Moscheen wir mit deutschem Geld in Afghanistan gebaut haben, um den radikalen Islam zu fördern.
Ist das Deutsch, oder kann das weg?
Das übliche Geschwafel dieser Frau. Sie hatte 20Jahre Zeit und Möglichkeiten diese Schweinerei zu beenden und hat wie all die 16 Jahre ihrer Regierung nur herumscharwenzelt und nichts fertig gebracht. Als ich vor 20 Jahren vor dieser Dummheit gewarnt hatte, ist man mit Schuhen und Strümpfen über mich hergefallen. Jetzt tun diese Oberflaschen , die sich gerne als Elite bezeichnen so als wäre das Ergebnis ihres Versagens vom Himmel gefallen. Hoffentlich gibt es am 26.09. ein böses Erwachen für diese Typen.
Frau Merkel hat in ihrer Rede richtigerweise darauf hingewiesen, in welchem Dilemma Politik häufig steckt: wie man es macht, macht man es verkehrt. Dies natürlich umso mehr im Wahlkampf, in dem jede Partei sich ihre Angriffspunkte so zurecht legt, wie es ihr gerade gefällt. Was aber natürlich auch Fakt ist, ist die totale militärische Abhängigkeit der EU von den USA. Wenn man keine abgestimmten Waffensysteme und keine gemeinsame Militärstrategie hat, sollte man den Mund nicht so voll nehmen. Es ist einfach Diktaturen anzuklagen und zu beschimpfen, für Menschenrechte einzutreten und für alles das nicht selbst eintreten zu müssen, wenn es mal hart auf hart kommt. Mich erinnert das Verhalten der EU, insbesondere aber auch das Verhalten Deutschlands an ein kleines vorlautes Kind im Spielkasten der Großen, das bloss deshalb seinen Mund aufreisst, weil der große Bruder in der Nähe ist. Wäre es nicht langsam mal an der Zeit erwachsen zu werden und zu erkennen, dass nicht nur im Sandkasten sondern auch in der realen Welt Stärke nicht nur in einer großen Klappe besteht?