Afghanistan-Krise Evakuierungsmission des Westens endet im Chaos – Terror und Tote in der Nähe des Kabuler Flughafens

Opfer des Anschlags: Verletzte in einem Krankenhaus in Kabul.
Berlin, Brüssel, Paris Zwei Anschläge in einer Menschenmenge vor dem Kabuler Flughafen haben die westliche Evakuierungsmission ins Chaos gestürzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem „niederträchtigen Anschlag“. Dabei sind offenbar deutlich mehr Menschen ums Leben gekommen als zunächst berichtet.
In jüngsten Meldungen ist von mindestens 72 Einheimischen und 13 US-Soldaten die Rede. Wie ein Sprecher der amerikanischen Streitkräfte weiter mitteilte, erhöhte sich auch die Zahl der verletzten US-Truppenangehörigen auf nunmehr 18. Sie würden mit medizinisch ausgerüsteten Transportmaschinen aus Kabul ausgeflogen.
Deutsche Soldaten seien nicht zu Schaden bekommen, sagte Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Seit Tagen hatten westliche Sicherheitsbehörden vor Anschlägen durch Terroristen des „Islamischen Staats“ gewarnt.
Die Bundeswehr beendete am Donnerstag ihre Rettungsflüge aus Afghanistan. Damit zeichnet sich ab, dass auch deutsche Staatsbürger zurückbleiben werden. Nach Regierungsangaben hielten sich zuletzt noch 200 Deutsche in Afghanistan auf. Die letzten drei Maschinen mit Geretteten haben Kabul am Donnerstag verlassen, an Bord fanden sich auch die meisten Angehörige der Bundeswehr. Zwei deutsche Soldaten waren zunächst zurückgeblieben, für ihr Leib und Leben habe jedoch zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr bestanden, berichtete Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer.
Die Bundesregierung setzt darauf, dass die Taliban auch nach dem Abzug der westlichen Truppen am 31. August die Ausreise von Schutzsuchenden ermöglichen, dann mit Chartermaschinen oder Linienflügen. Entsprechende Zusagen haben die Taliban bereits gemacht, doch was sie wert sind, ist unklar.
USA unterbrechen Rettungsflüge nach Explosionen
Die westlichen Staaten, die seit Tagen unter Hektik ihre Landsleute und afghanische Helfer aus Kabul ausfliegen, waren gewarnt. Und dennoch war der Doppelanschlag am Flughafen der afghanischen Hauptstadt ein Schock. Die Befürchtungen der Sicherheitsorgane sind eingetreten.
Schon am Vorabend hatten westliche Geheimdienste ihre Erkenntnisse über eine drohenden Terrorattacke geteilt. Die USA und andere westliche Staaten hatten ihre Bürger dazu aufgerufen, nicht mehr zum Airport zu kommen. Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer sprach von einer „massiv verschärften“ Terrorgefahr.
Trotzdem waren immer mehr verzweifelte Afghanen zum Flughafen geströmt, die auf einen der letzten Evakuierungsflüge wollten. Am frühen Abend Ortszeit sollten zahlreiche von ihnen – die genauen Zahlen stehen noch nicht fest – ihre Hoffnungen mit dem Leben bezahlen.

Ursache der Explosionen war ein Anschlag der Terrorgruppe „Islamischer Staat in Afghanistan“ (ISK) – dazu bekannte sich die Organisation am Abend, die US-Regierung benannte ebenfalls den IS als Urheber der Attentate. Die Gruppe gilt als noch radikaler als die Taliban, die die offizielle Regierung des Landes in die Flucht geschlagen haben. Der ISK will einen noch restriktiveren Scharia-Staat errichten.
ISK-Terroristen haben in Afghanistan schon Anschläge auf Mädchenschulen und sogar Geburtskliniken verübt. Bei dem vermutlich durch einen Selbstmordattentäter ausgeführten Anschlag am Flughafen sollen nach Angaben der Taliban auch einige ihrer Kämpfer umgekommen sein.
In US-Kreisen wird befürchtet, dass es zu weiteren Anschlägen am Flughafen von Kabul kommen könnte. US-Präsident Biden kündigte am späten Donnerstagabend Vergeltung für die Angreifer an. „Wir werden Euch jagen und Euch dafür bezahlen lassen“, sagte er im Weißen Haus. Die Evakuierungsmission von afghanischen Ortskräften und Staatsbürgern solle jedoch weitergehen. Biden versprach, verbliebene US-Bürger aus dem Land zu holen.
Nach Bekanntwerden der Explosionen unterbrachen die USA ihre Rettungsflüge zwischenzeitig, kündigten aber bereits eine Fortsetzung ihrer Evakuierungsmission an. Die Bundeswehr hat ihren Einsatz dagegen inzwischen ganz eingestellt.
Bisher hat die Bundeswehr etwa 6000 Menschen evakuiert. Nach Informationen des Handelsblatts aus Regierungskreisen haben sich in den vergangenen Tagen jedoch 100.000 Schutzsuchende bei der Bundesregierung gemeldet. „Es ist klar, dass viele zurückbleiben werden, und das schmerzt“, sagte CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter dem Handelsblatt.
Dramatisch ist dabei auch, dass es sich bei den Deutschen, die sich noch in Afghanistan aufhalten, um sogenannte „Doppelstaatler“ handeln soll. Das verlautbarte aus Regierungskreisen. Diese Menschen mit deutschem und afghanischem Pass würden von den Taliban wohl als Afghanen angesehen. Und die islamistische Miliz hatte verkündet, nur noch Ausländer ausreisen lassen zu wollen.
Bundesregierung will 100 Millionen Euro für Flüchtlingshilfe ausgeben
Auch deshalb endet mit dem Ende des Evakuierungseinsatzes in Afghanistan die Verantwortung Deutschlands nicht. So zumindest ordnet Kiesewetter die Lage ein. „Sowohl deutsche Staatsangehörige wie auch weitere Schutzbedürftige, insbesondere Ortskräfte, müssen sich auch mit Ende des Einsatzes auf Deutschland verlassen können“, sagte der Obmann der Unionsfraktion im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags.
Wie Kiesewetter setzt auch SPD-Außenpolitiker Nils Schmid darauf, dass die Taliban den zivilen Flugverkehr wieder aufnehmen: „Es wird die erste Bewährungsprobe für die Taliban sein, ob sie sich mit der internationalen Gemeinschaft einlassen“, sagte der außenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion dem Handelsblatt.
Durch das Angebot von Hilfszahlungen habe die Bundesregierung Möglichkeiten, Einfluss auf die neuen Machthaber in Kabul zu nehmen. „Natürlich ist der Ausgang offen, aber wir sollten es unbedingt probieren“, betonte Schmid. „Die Taliban haben militärisch gesiegt, aber das reicht nicht aus, um ein Land zu verwalten. Sie brauchen die Unterstützung von Kräften, die bisher nicht auf ihrer Seite standen.“ Die Bundesregierung kündigte Flüchtlingshilfen in Afghanistan und den Nachbarstaaten von 100 Millionen Euro an.
Mit dem Geld versucht die Bundesregierung die Taliban dazu zu bewegen, dass der Flughafen Kabul nach Abzug der westlichen Truppen am 31. August zivil genutzt werden kann. Dann könnten Flüchtlinge mit zivilen Passagiermaschinen das Land verlassen, hofft die Bundesregierung. Parallel wird auch eine Fluchtroute über den Landweg erwogen.
Gleichzeitig werde „kein Weg an direkten Gesprächen vorbeiführen, damit möglichst viele Menschen per Charter- oder Linienflug das Land verlassen können“, ist der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der FDP, Alexander Graf Lambsdorff, überzeugt. „Wenn in Zukunft nur noch Menschen mit gültigem Visum ausreisen dürfen, wie die Taliban mehrfach erklärt haben, muss die Bundesregierung Visa direkt aufs Handy schicken.“

Am Freitag dürfte die Bundeswehr vor allem damit beschäftigt sein, die verbleibenden Soldaten auszufliegen.
Lambsdorff zufolge berichten zivile Hilfsorganisationen aus Afghanistan, dass die Amerikaner längst so verfahren würden. Der Fraktionsvize übte scharfe Kritik an der lange Zeit zögerlichen deutschen Strategie: „Leider hat die Bundesregierung so lange gewartet, dass die Taliban jetzt kontrollieren, wer Afghanistan verlassen darf und wer nicht. Deutschland muss deshalb den diplomatischen Druck auf die Taliban erhöhen“, sagte er dem Handelsblatt.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) forderte eine großzügige Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen in Deutschland. „Nach dem Chaos der vergangenen Tage am Flughafen und dem Versäumnis der vergangenen Monate, muss es jetzt die Priorität der deutschen Regierung sein, alle Menschen mit deutschen Pässen und deren Familien sowie andere Gefährdete wie Ortskräfte, Frauenrechtlerinnen, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Künstler, Akademiker unbürokratisch und schnell zu helfen, auf sicherem Weg aus dem Land zu kommen und sehr großzügig in Deutschland aufzunehmen“, sagte HRW-Deutschland-Direktor Wenzel Michalski dem Handelsblatt. „Das ist die Regierung den im Stich gelassenen Menschen schuldig.“
Er wisse, dass es „verdammt schwer“ sei, die Menschen jetzt noch herauszubringen, sagte Michalski weiter. „Da sollten wenigstens die bürokratischen Hindernisse abgebaut werden“, mahnte er. Die Bundesregierung habe verkündet, dass sie mit den Taliban die Ausreise der Menschen auf zivilem Weg ausgehandelt habe. „Sie muss nun zu ihrem Wort stehen, schnell und pragmatisch.“
Belgien, Polen und Dänemark haben Evakuierungen bereits eingestellt
Spätestens am 31. August werden auch die Amerikaner den Flugbetrieb einstellen, auch sie werden Schutzsuchende zurücklassen, vor allem Afghanen, die den westlichen Truppen beim Aufbau des neuen, demokratischen Afghanistan geholfen haben, das in den vergangenen Wochen vollständig kollabiert ist. Die Zukunft des Landes liegt nun in den Händen der Taliban – und auch das Schicksal der Zurückgebliebenen.
Hoffnung setzen die Nato-Staaten jetzt in ihr Mitglied Türkei. Ankara zog zwar auch seine Soldaten aus Kabul zurück. Aber das Land ist laut dem Sprecher des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan, Ibrahim Kalin, bereit, den Betrieb des internationalen Flughafens Kabul durch ziviles türkisches Personal für den Übergangsprozess zu organisieren. „Nach dem Abzug unseres Militärs können wir den Betrieb des Flughafens dort fortsetzen. Natürlich werden Bedingungen und Details noch besprochen, aber es gibt eine Anfrage“, sagte Kalin im türkischen Fernsehen.
Russland, das seine Botschaft in Kabul mit verringertem Personal weiterbetreibt, holte am Mittwoch mit vier Militärfliegern etwa 500 russische, ukrainische und Staatsangehörige anderer früherer Sowjetrepubliken raus.
„Europa hängt am Rockzipfel der USA“
Frankreich hatte vor dem Anschlag den letzten Flug für Freitag angekündigt. Die Regierung in Paris agiert vorsichtig, von Druck auf die Taliban oder Bemühungen zu Verhandlungen ist bisher wenig zu spüren. Innenminister Gérald Darmanin twitterte vor den Explosionen: „Frankreich ist menschlich, aber auch wachsam.“
In der afghanischen Krise setze die Regierung alle zur Verfügung stehenden Mittel ein, um die Sicherheit der Franzosen zu gewährleisten. Die Sorge, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen, ist nach den Pariser Terroranschlägen von 2015 groß.
In Berlin stellte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer den Fragen des Innenausschusses. Mit Blick auf einzelne abgeschobene Straftäter, denen es gelungen war, über die Evakuierungsflüge zurück nach Deutschland zu gelangen, sagte Seehofer, diese hätten ihre Unterlagen gefälscht. „Wenn man eine unbürokratische Lösung will, bekommt man auch ein gewisses Risiko, aber in einer Notsituation nehmen wir das Risiko in Kauf“, fügte er hinzu.
Den Europäern hat das Desaster in Afghanistan vor Augen geführt, wie unselbstständig sie in der Außen- und Sicherheitspolitik weiterhin sind. „Die Afghanistanmission war von A bis Z US-dominiert“, erläuterte SPD-Politiker Schmid. „Wir hingen am Rockzipfel der Amerikaner.“
Mehr: Wie hungernden Menschen in Afghanistan auch nach dem Truppenabzug geholfen werden kann
Mit Agenturmaterial.
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