Taliban an der Macht „Es gibt keine gute Lösung“ – Warum die USA mit neuen Sanktionen gegen Afghanistan zögern

Biden dürfte sich nach einem viel kritisierten Abzug nicht vorwerfen lassen wollen, er lasse die Afghanen verhungern.
Washington Bereits Anfang August gab es die ersten Hilferufe aus Kabul. Der damalige afghanische Außenminister Hanif Atmar rief die internationale Gemeinschaft auf, ihre Sanktionen gegen die Taliban zu verschärfen. „Nicht nur Afghanistan ist in Gefahr, sondern die ganze Welt“, warnte Atmar, während die Islamisten eine Provinz nach der anderen eroberten. Nur eine Woche später sollten die Taliban die Hauptstadt einnehmen und damit die Machtübernahme im ganzen Land besiegeln.
Atmar ahnte offenbar, was nach der Eroberung folgen würde: der Zerfall eines Landes im Blitztempo. Nach dem chaotischen Truppenabzug der USA und den hektischen Evakuierungen beginnt die nächste Phase der Angst und Unsicherheit in einer der ärmsten Regionen der Welt. Nach 20 Jahren Militäreinsatz des Westens in Afghanistan drohen Bürgerkrieg, Terroranschläge, Hunger und Vertreibungen.
Doch neue Sanktionen gegen die Taliban, die bald eine Regierung formen und Zugriff auf zusätzliche Geldquellen bekommen könnten, gibt es bislang nicht. Zwar haben die USA und die Nato die Taliban von einigen Finanzmitteln abgeschnitten.
Doch die USA und ihre Partner scheuen noch vor einem breit angelegten internationalen Vorstoß zurück: „Die Situation ist extrem kompliziert“, sagt John Smith, der bis 2018 das Amt zur Kontrolle von Auslandsvermögen im US-Finanzministerium (Office of Foreign Assets Control, kurz OFAC) leitete. Der Sanktionsexperte ist inzwischen Partner der Kanzlei für Wirtschaftsrecht Morrison & Foerster.
„Es gibt keine gute Lösung, alle Szenarien bergen Risiken“, so Smith. Bei neuen Sanktionen könnten die Taliban die afghanische Bevölkerung durch Repressionen „noch mehr leiden lassen als ohnehin schon. Und treten keine neuen Sanktionen in Kraft, fließen potenziell Milliarden an eine Gruppe von Kriminellen.“
Es gibt viele Optionen – in der Theorie
Aktuell sorgen bereits bestehende Sanktionen dafür, dass die Taliban klamm bei Kasse sind. Kurz nach dem Sturm auf Kabul blockierten die USA einen Großteil der afghanischen Währungsreserven im Wert von neun Milliarden Dollar.
Außerdem stoppte die US-Notenbank Federal Reserve ihre monatlichen Bargeldlieferung an Afghanistan. Zwei große amerikanische Transferdienste, Western Union und MoneyGram, zogen sich zurück. Auch Hilfen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds (IWF) werden vorerst nicht überwiesen.
Doch sobald die Taliban eine Regierung bilden, könnten diese Maßnahmen als Druckmittel nicht mehr genügen. „Die USA haben nie genau definiert, was oder wer die Taliban sind. Auch haben sie nie klargestellt, ob die Tatsache, dass eine sanktionierte Gruppe plötzlich offizielle Regierung ist, bedeutet, dass das Land selbst sanktioniert wird“, analysierte das Fachportal Just Security. Die USA und ihre Partner müssten schon die afghanische Zentralbank selbst, die Ministerien und Behörden explizit neuen Sanktionen unterwerfen, um frische Finanzströme zu verhindern.
Die US-Regierung signalisierte, man halte sich „Optionen für umfassendere Sanktionen“ offen. In der Theorie gibt es viele Möglichkeiten: So könnte eine neue afghanische Regierung zum „staatlichen Sponsor des Terrorismus“ erklärt werden. US-Präsident Biden könnte Spitzenfunktionäre, Drogenhändler oder Rohstoffminen mit Sanktionen belegen. „Je brutaler die Taliban gegen Frauen und religiöse Minderheiten vorgehen, desto wahrscheinlicher werden neue Sanktionen“, sagt Smith.
Das Kalkül Washingtons könnte dann sein, die Taliban an den Verhandlungstisch zu bringen. Denn nicht nur die Taliban haben ein Interesse daran, international anerkannt zu werden – auch die USA und Europa sind auf die Taliban angewiesen, insbesondere bei der Terrorabwehr. Seit dem Rückzug des Westens strömen Tausende Dschihadisten nach Afghanistan.
Zuletzt waren mehr als 170 Afghanen und 13 amerikanische Soldaten am Kabuler Flughafen getötet worden, als sich ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengte. Die USA machen den afghanischen Zweig des Islamischen Staats (IS-K) verantwortlich, Biden ordnete mehrere Luftschläge gegen die Gruppe an.
China und Russland könnten querschießen
Allerdings könnten „China, Russland, Pakistan und andere Länder die Mühen untergraben“, wirft Smith ein. Ein Beispiel dafür sind Sanktionen der Uno, auf deren internationaler Sanktionsliste viele Taliban-Führer stehen. Im Dezember sollen die Strafmaßnahmen verschärft werden. „Aber Russland oder China könnten im Uno-Sicherheitsrat ein Veto einlegen“, erklärt die Denkfabrik Atlantic Council. „Beide Länder sehnen sich danach, die USA zu blamieren. Es droht eine diplomatische Krise.“
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie wirksam Sanktionen in der jetzigen Situation wären. Die Taliban verfügten schon vor dem Sturm auf Kabul über ein ausgeklügeltes Finanznetzwerk jenseits der Bankensysteme. Der Uno zufolge nehmen sie jährlich zwischen 300 Millionen und 1,5 Milliarden US-Dollar aus illegalem Bergbau, Drogenproduktion, Erpressung und Lösegeldern ein.
Zuletzt ließen die Taliban den Handel mit Nachbarn aufblühen: Der selbst mit Sanktionen belegte Iran exportiert Kraftstoff nach Afghanistan, die Taliban bezahlen mit Erlösen aus dem Drogenhandel.
Was einen Vorstoß für schärfere Sanktionen erschwert, ist die außerordentlich angespannte humanitäre Lage. Biden dürfte sich nach einem viel kritisierten Abzug nicht vorwerfen lassen wollen, er lasse die Afghanen verhungern. Zwar sicherte Washington bereits Unterstützung zu, doch Sanktionen erschweren den Einsatz vor Ort, kritisieren Hilfsorganisationen.
Der Absturz der Landeswährung Afghani, Inflation, steigende Lebensmittelpreise und Dürre zeichnen sich schon jetzt ab. Afghanistan, dessen Wirtschaft fast zur Hälfte von internationalen Geldern abhängig ist, droht der finanzielle Kollaps – auch ohne neue Sanktionen.
Mehr: Wer sind eigentlich die Taliban? Eine Einordnung ihrer Geschichte und Macht
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Dollar u. Euro drucken ist doch kein Problem, damit kann der gute Westen, den Rest der Welt doch zuschütten