Machtübernahme in Afghanistan Wer sind eigentlich die Taliban?

Kämpfer der Taliban und ein pakistanischer Soldat stehen Wache an einem Grenzübergang zwischen Pakistan und Afghanistan.
Seit Mitte August hat die militant-islamistische Vereinigung Taliban in Afghanistan mit militärischen Mitteln die Macht übernommen. Seitdem herrschen besonders in der afghanischen Hauptstadt Kabul chaotische Zustände. Alle Neuigkeiten finden Sie im News-Blog. Aber wer sind die Taliban überhaupt und was kann man von ihrer Herrschaft erwarten? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Was bedeutet eigentlich Taliban?
„Taliban“ ist Plural vom Wort „Talib“, dass aus dem Arabischen stammt. Übersetzt bedeutet Talib „Wissenssuchender, Student“. Doch kaum einer wird die Islamisten damit in Verbindung bringen. In vielen Ländern werden die Taliban mit Angst, Terror und Unterdrückung von Menschenrechten assoziiert.
Die Bewegung entstand in den frühen 1990er Jahren aus zurückgekehrten paschtunisch-afghanischen Flüchtlingen und Veteranen des Krieges gegen die Sowjetunion. Viele Afghanen flüchteten bei der Besatzung in Gebiete jenseits der pakistanischen Grenze.
Die Gemeinschaft der Gelehrten des Islam (JUI), eine pakistanische Mutterorganisation, bildete die ideologische Grundlage für die Taliban. In den islamischen JUI-Schulen wurden paschtunische Flüchtlinge aufgenommen. Nach dem die Sowjetunion 1989 ihre Invasion beendete, wurden die Schulen zu einer Kaderschmiede für die Taliban. Die JUI ist Teil der Gelehrtenbewegung von Deoband, einer Ausrichtung des Islams, die als sehr fundamentalistisch gilt.
Nach dem Abzug der Sowjets brach Bürgerkrieg zwischen rivalisierenden Mujahedin-Gruppen aus, Guerillas die gegen die Besatzer Widerstand leisteten. Pakistan hatte sie unterstützt, um eine pro-pakistanische Regierung an die Macht zu hieven. Da die Gruppen im Bürgerkrieg aber nicht mehr als geeigneter Partner betrachtet wurden, rekrutierte der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die paschtunischen Flüchtlinge aus den JUI-Schulen. Eine schlagkräftige Miliz wurde aufgebaut: die Taliban, die 1994 begannen Afghanistan zu erobern.
Die Strukturen der Taliban
Die afghanische Terrorgruppe ist hierarchisch organisiert. Chef ist momentan Mawlawi Haibatullah Achundsada. Er führt die Islamisten seit 2016 an, nachdem sein Vorgänger Mullah Mansur bei einem US-Angriff getötet wurde. Er trifft die endgültigen Entscheidungen über politische, religiöse und militärische Angelegenheiten der Taliban. Der religiöse Hardliner gehört zur Gründergeneration der Bewegung. Inzwischen soll er etwa 60 Jahre alt sein.
Gesicht und Vize der Gruppe ist Mullah Abdul Ghani Baradar. Er dürfte jetzt eine Spitzenrolle bei den Verhandlungen für eine neue Regierung spielen.
Unterstützung bekommt Achundsada durch einige Minister und drei Delegierte. Diese sind vor allem für die Bereiche Militär und Geheimdienst zuständig. Das höchste Ratgebergremium der Taliban hat 26 Mitglieder und ist bekannt unter dem Namen „Rahbari Schura“ oder „Quetta Schura“.
Für die Vertretung der Taliban im international-politischen Raum ist Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar zuständig mit einem Sitz in Doha, der Hauptstadt von Katar.
Die erste Machtübernahme der Taliban
Das erste Mal traten die Taliban als Miliz 1994 in Erscheinung. 1995 standen sie bereits kurz vor der afghanischen Hauptstadt Kabul und nahmen die westafghanische Metropole Herat ein. 1996 belagerten und beschossen sie Kabul und übernahmen zum ersten Mal die Macht. Zusammengehalten wurden sie durch ihre islamistische Ideologie, durch die sie sich auch von den korrupten Warlords abhoben. Sie errichten das Islamische Emirat Afghanistan, eine Regierung die später lediglich von Pakistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien anerkannt wurde.
2001 vertrieben die USA die Taliban, weil Osama bin Ladens Terrornetzwerk Al-Qaida dort Unterschlupf fand und die Anschläge auf das World Trade Center am 11. September organisiert hatte. Dafür kooperierten die Streitkräfte der Afghan United Front unter US-geführter Intervention mit den US-amerikanischen und britischen Spezialeinheiten. Die Führer der Taliban haben sich durch einen Rückzug nach Pakistan gerettet.
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Frauen in Afghanistan haben Angst vor der Scharia
Bereits 1996 als die Taliban zum ersten Mal die Macht in Afghanistan übernahmen, führten sie die Scharia, das Rechtssystem des Islam als staatliche Rechtsordnung ein. Frauen wurden daher besonders schlecht behandelt. So war es ihnen etwa untersagt alleine auf die Straße zu gehen. Sie mussten Burka tragen und von einem männlichen Blutsverwandten begleitet werden.
Außerhalb ihres Hauses war es ihnen verboten zu sprechen. Frauen durften nicht fotografiert werden oder in Magazinen, Zeitungen sowie Büchern erscheinen. Farbenfrohe Kleidung oder Schuhe mit Absätzen wurden ebenfalls verbannt. Frauen werden von den Taliban also grundsätzlich sexualisiert.
Auch im Bereich Bildung wurden die afghanischen Frauen unterdrückt. Sie durften bloß bis zum Alter von acht Jahren unterrichtet werden. Frauen, die eine höhere Bildung erlangen wollten, mussten heimlich Schulen besuchen und riskierten damit die Todesstrafe. Strafen wegen Verstöße gegen die Scharia waren etwa auspeitschen und wurden häufig öffentlich abgehalten.
Frauen und besonders auch Frauenrechtlerinnen fürchten deshalb derzeit um ihr Leben, wenn sie sich in Afghanistan aufhalten. Sie glauben nicht, dass sie Frauenrechte akzeptieren werden und misstrauen den Taliban, auch wenn sie sich derzeit reformiert geben. Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid erklärte Frauen seien „aufgerufen, sich zu melden, wenn sie in der Regierung mitarbeiten wollen“.

Frauen dürfen nur noch verschleiert auf die Straße gehen. Sie fürchten die neue Regierung besonders.
Die Expertin Nadia Nashir-Karim sagte dem NDR in einem Interview, dass sie nicht erwartet, dass diese Vorsätze lange halten werden. Einige Frauenrechtsaktivistinnen wurden bereits vom Westen evakuiert. So bleibt die Frage offen: Sind die Taliban im Jahr 2021 anders als die, die 1996 bis 2001 regierten? Dazu lesen Sie „Der radikale Flügel hat erheblich an Gewicht gewonnen“ – So funktioniert die Taliban-Führung.
Die Wirtschaft und Finanzierung von Terror
Die Machtübernahme in einem Land ist kostspielig. Wie finanzieren sich die Taliban? Eine Antwort liegt im Drogenhandel. Besonders der Export von Opium und Heroin erweist sich für die Islamisten als lukratives Geschäft und spült Millionen von Dollar in ihre Kasse. Laut US-Schätzungen macht diese Art von Exportgeschäft mehr als 60 Prozent der gesamten Einnahmen der Terrorgruppe aus, zeigt ein Bericht des US-Sondergeneralinspektors für Afghanistan.
Die Taliban Regierung im Jahr 2000 hatte den Mohnanbau für die Opiumproduktion verboten. Es war ein vergeblicher Schritt, um internationale Anerkennung zu erhalten. Doch das hinterließ zu einen ein Loch in den Finanzen und sorgte für Missgunst der Bauern, die ihre Haupteinnahmequelle verloren hatten.
2021 scheinen die Taliban ihre Lektion gelernt zu haben, meint Wissenschaftlerin Vanda Felbab-Brown. Experten halten es für unwahrscheinlich, dass die Taliban den Mohnanbau jemals wieder verbieten werden. Ein florierender Drogenhandel unter der neuen Regierung erscheint als realistischer Wirtschaftszweig.
Der politische Analyst Hanif Sufizada listet in einem seiner Reports weitere Einnahmequellen auf. Dazu gehören vorrangig Spenden, Steuern und der Abbau sowie Verkauf von Rohstoffen. Eine zentrale Rolle bei der Finanzierung der Taliban soll zudem der pakistanische Militärgeheimdienst ISI spielen. Pakistan streitet das jedoch vehement ab.
Auch im Bereich der Rohstoffe scheint es vielversprechend für die Taliban zu laufen. So besitzt Afghanistan zwei Milliarden Tonnen Kupfererz sowie mehrere Lagerstätten für Gold und Kohle. Darüber hinaus gibt es reichlich Seltener Erden, die besonders wegen dem Ausbau der Elektromobilität wichtiger geworden sind.
Ein weiterer Faktor ist die Beziehung zu China. Nach dem Sieg der Taliban war China das erste Land, das sich zu „freundlichen Beziehungen“ mit den islamistischen Machthabern bereit erklärte – nicht zuletzt wegen ihrer Interessen an Rohstoffen.
Die Taliban hingegen erhoffen sich durch gute sino-afghanische Beziehungen mehr internationale Anerkennung. Die Zusammenarbeit mit dem neuen afghanischen Herrschern von Kabul kann China Infrastruktur Verträge und Investitionen in Milliardenhöhe einbringen sowie neue Impulse für Chinas Seidenstraße setzen.
Der Westen hingegen reagiert mit Sanktionen. So hat etwa der Internationale Währungsfonds (IWF) bereits auf Druck der USA eine Kreditlinie Afghanistans von rund 460 Millionen Dollar gesperrt. Auch Deutschland zahlt seit Jahren finanzielle Hilfe nach Afghanistan, die nun vorerst ausbleibt. „Wir werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben“, sagte Außenminister Heiko Maas.
Erst im vergangenen Jahr sagte Deutschland 160 Millionen Euro für humanitäre Hilfen und Polizeiausbildung zu. Auch die EU hat all ihre Hilfen gestoppt. Besonders betroffen von den Sanktionen sind allerdings nicht die Anhänger der Taliban, sondern die Bevölkerung Afghanistans. Nach Angaben des geflohenen afghanischen Präsidenten Ghani haben 90 Prozent der etwa 38 Millionen Afghanen ein Einkommen von weniger als zwei Dollar pro Tag.
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