Insolvenzen So wenige Insolvenzen wie seit Jahrzehnten nicht mehr – doch Hunderttausende Jobs betroffen

Insgesamt verringerte sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im laufenden Jahr gegenüber 2019 um 13,4 Prozent.
Düsseldorf Der Lockdown im Frühjahr mit der angeordneten Schließung aller Läden und das nur langsame Anfahren des öffentlichen Lebens ab dem Sommer haben die Umsätze vieler Friseursalons so sehr gedrückt, dass die größte deutsche Kette Klier mit ihren knapp 10.000 Mitarbeitern Insolvenz anmelden musste. Zuvor waren und sind viele Zehntausende Angestellte durch Insolvenzen oder Schutzschirmverfahren betroffen, darunter 28.000 Mitarbeiter beim Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof und insgesamt knapp 10.000 Angestellte bei den Modehändlern Esprit, Hallhuber und Bonita sowie dem Gastronomiebetrieb Vapiano.
Wer daraus schließt, dass Corona und der Wirtschaftseinbruch die Pleitewelle anschwellen lassen, irrt. Tatsächlich sinken die Insolvenzzahlen rasant. Doch der Eindruck, dass 2020 auffällig viele Großkonzerne Insolvenz anmelden und dadurch viel mehr Mitarbeiter als noch 2019 betroffen sind, ist richtig. Für beide Entwicklungen gibt es Ursachen.
Immer häufiger auch Chancen zur Neuausrichtung
Insgesamt verringerte sich die Zahl der Unternehmensinsolvenzen im laufenden Jahr gegenüber 2019 um 13,4 Prozent auf 16.300 Fälle. Das sind nur noch halb so viele Unternehmensinsolvenzen wie vor zehn Jahren, und es ist der niedrigste Stand seit 1993. Diese neuen Daten präsentierte am Dienstag die Wirtschaftsauskunftei Creditreform.
Bei Kleinstunternehmen bis 250.000 Euro Jahresumsatz sanken die Insolvenzzahlen drastisch um gut 20 Prozent auf 7.410 Insolvenzen. Hingegen stiegen sie in den Größenklassen ab fünf Millionen Euro Jahresumsatz um rund ein Drittel auf 1240 Fälle.
Nach Einschätzung der Creditreform-Experten dürften viele Kleinstfirmen die Möglichkeit der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht genutzt und von den Liquiditätshilfen profitiert haben. Auch ist die Verbindung zwischen privaten und gewerblichen Belangen oft weniger trennscharf.
Ein Geschäft wird häufig durch eine Gewerbeabmeldung aufgegeben, ohne dass Insolvenztatbestände vorliegen. Die Kleinstfirmen scheiden also still aus, ohne dass es die Amtsgerichte bemerken. Die Dunkelziffer für diese Art der Pleiten ist hoch.
Größere Firmen nutzen dagegen das deutsche Insolvenzrecht zunehmend auch als Chance zur Neuausrichtung, also in Form eines Schutzschirmverfahrens oder der Insolvenz in Eigenverwaltung. Diese Art der Insolvenz bevorzugt inzwischen mehr als die Hälfte der Unternehmen ab fünf Millionen Euro Jahresumsatz. Die betroffenen Mitarbeiter verlieren also nicht alle ihren Job.
So ist die Insolvenz des Gebäudedienstleisters Clemens Kleine für die rund 5500 Beschäftigten zu einem glücklichen Ende gekommen. Im Juni wurde der Insolvenzplan für ein Verfahren in Eigenverwaltung eingereicht. Mittlerweile wurde das Familienunternehmen von der Stölting Facility Service GmbH aus Leipzig übernommen. Es steigt so zu einem der größten Dienstleistungsunternehmen in Deutschland auf.
Deutlich wird der wachsende Anteil der Großinsolvenzen, einschließlich der Schutzschirmverfahren, beim Blick auf die Beschäftigten- und Schadenszahlen der insolventen Unternehmen. 2020 summierten sich die Gläubigerschäden auf etwa 34 Milliarden Euro, gegenüber 23,5 Milliarden im Jahr davor. Das entspricht je Insolvenzfall einer Rekordschadenssumme von rund zwei Millionen Euro.
Die Zahl der von Insolvenzen betroffenen Arbeitnehmer erhöhte sich infolge der vielen großen, spektakulären Insolvenzfälle binnen eines Jahres um mehr als ein Drittel: 332.000 Arbeitsplätze sind infolge der diesjährigen Unternehmensinsolvenzen bedroht oder bereits weggefallen. Doch trotzdem ist im Krisenjahr 2020 die Gesamtzahl der Insolvenzen sogar stärker als in den Vorjahren gesunken.
Weniger Insolvenzen: Das sind die Gründe
Erst ließ der der lange Wirtschaftsaufschwung nach der Rezession infolge der Finanzkrise vor mehr als einem Jahrzehnt die Zahl der Pleiten immer weiter sinken. 2020, als die Pandemie viele Handels- und Dienstleistungsbetriebe angesichts der Schließung von Kneipen, Restaurants, Cafés und vieler anderer Läden bedrohte, setzte die Bundesregierung die Antragspflicht zur Insolvenzmeldung kurzerhand aus.
Wer seine Rechnungen nicht bezahlen konnte und damit zahlungsunfähig oder überschuldet war, brauchte dies dem Amtsrichter seit dem Frühjahr nicht mehr zu melden. Dadurch sanken die Zahlen im laufenden Jahr weiter.
Seit dem 1. Oktober müssen zwar zahlungsunfähige Unternehmen wieder eine Insolvenz melden. Das betrifft üblicherweise rund 90 Prozent aller Pleiten. Als zahlungsunfähig gilt, wer zehn oder mehr Prozent seiner Rechnungen nicht innerhalb von 21 Tagen bezahlen kann.
Dennoch registrieren Amtsgerichte, Wirtschaftsprüfer und Insolvenzexperten bislang keinen nennenswerten Anstieg der Insolvenzzahlen. Zum einen halten die vielen Hilfsprogramme der Bundesregierung, die bis weit in das kommende Jahr hinein gelten, viele Selbstständige, kleine und Kleinstunternehmen am Leben – trotz enormer Einnahmeausfälle.
Darüber hinaus ignorieren nach Einschätzung von Wirtschaftsprüfern und Insolvenzexperten viele Unternehmen ihre finanziellen Schieflagen. Vor allem kleine Firmen und Soloselbstständige im Familienbetrieb verkennen angesichts der staatlichen Unterstützungen ihre Lage, so ist von Insolvenzexperten seit Wochen zu hören.
Schließlich spielt der Faktor Zeit der immer noch erfreulich erscheinenden Insolvenzstatistik in die Karten. Im Durchschnitt dauert es mindestens 60 Tage, ehe ein Antrag auf Insolvenz, wie er seit Oktober nicht mehr aufgeschoben werden darf, tatsächlich in die Statistik einfließt.
2021 müssen sich Unternehmen auf Zahlungsschwierigkeiten einstellen
Erst einmal müssen die Amtsgerichte das Antragsverfahren prüfen, es dann einleiten und beurteilen, ehe über eine Insolvenz beschieden wird. Je mehr Anträge eingehen, desto länger verschieben sich die Bescheide und damit auch die steigenden Insolvenzzahlen nach hinten.
Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. „Die gesunkene Fallzahl täuscht über die wirkliche Situation der Unternehmen hinweg“, warnt Creditreform-Sprecher Patrik-Ludwig Hantzsch. Insbesondere für Gastronomie, Einzelhandel oder die Messe-, Reise- und Veranstaltungsbranche habe die gegenwärtige Rezession massive Auswirkungen auf die Liquiditäts- und Finanzlage. „Das wird sich ab dem kommenden Jahr dann in den Insolvenzzahlen niederschlagen.“
Nach Einschätzung von Bundesbank-Vizepräsidentin Claudia Buch müssen sich Unternehmen und Staaten auf größere Zahlungsschwierigkeiten einstellen. Der Kreditversicherer Euler Hermes rechnet im nächsten Jahr mit einer spürbaren Zunahme an Insolvenzen. Für 2021 prognostiziert Euler Hermes einen Anstieg um acht Prozent gegenüber 2019.
Sorge bereite die Gefahr eines Dominoeffekts, da durch die vorübergehende Aussetzung der Insolvenzantragspflicht und durch die staatlichen Hilfsprogramme die Zahl der hochverschuldeten Unternehmen stark steigen dürfte.
Mehr: Neues Sanierungsrecht – Regierung will sich der Pleitewelle kurzfristig entgegenstemmen.
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So manche Insolvenz ist nur vorgezogen durch die aktuelle Pandemie. So wird es vermutlich zu weniger Verurteilungen kommen, denn man kann argumentieren, dass mit so weitreichenden Lockdowns nicht zu rechnen war und mit einer schnellen Erholung gerechnet werden konnte, wie das im Kapitalismus sonst üblich. Auch für den eigenen Selbstwert und für die soziale Umgebung hat man die Chance auf Absolution, dass alles auf die Pandemie zurückzuführen sei und nicht auf ein veraltetes Geschäftskonzept. Der Gesetzgeber könnte auch Hilfe leisten, indem Fristen verkürzt werden, d.h. man Schulden früher ganz los wird und neu starten kann. Der Kapitalismus zeichnet sich auch dadurch aus, dass es schnelle Neustarts gibt. Also lassen wir doch bitte den Kapitalismus schneller wieder auf Touren kommen mit neuen gesetzlichen Regelungen. Schließlich bald Wahljahr.
Pleiten gab es schon immer; ohne Corona-Pandemie.