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Kolumne von Richard David PrechtAuf dem Weg nach Retropia

Die Retropie, also die rückwärtsgewandte Utopie, erfindet Regeln zur Aufrechterhaltung eines vergänglichen Zustandes. Warum sich Parteien im Wahlkampf häufig in Retropie flüchten und ob früher tatsächlich alles besser war.Richard David Precht 05.03.2017 - 13:35 Uhr Quelle: Handelsblatt MagazinArtikel anhören

Richard David Precht lehrt Philosophie und schreibt Bücher. Zuletzt erschien von ihm: „Tiere denken. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen“. In seiner Kolumne „Das letzte Wort“ im Handelsblatt Magazin, aus dem der nachfolgende Text stammt, widmet er sich aktuellen gesellschaftlichen, politischen oder wirtschaftlichen Themen.

Foto: Michael Englert für Handelsblatt Magazin

Früher war alles besser. Wenn – ja, wenn nicht bereits früher alles besser gewesen wäre. Denn das ist das Problem von jedem Früher: dass es auch früher schon ein Früher gab, das anders war als das Früher von jetzt.

Trotzdem scheinen sehr viele Menschen in Deutschland zu glauben, dass unser Land irgendwann in der Vorzeit mal in gesegneteren Umständen war. Die Linkspartei oder zumindest Sahra Wagenknecht glaubt, dass dieses Früher in den 70er-Jahren lag, als Willy Brandt Bundeskanzler war und Günter Grass der Stellvertreter Goethes auf Erden. Und dann kam der Sündenfall der Agenda 2010, und die Sozialdemokratie wurde böse.

Frauke Petry glaubt, dass das gute Früher noch weiter zurückliegt, nämlich in den 50er-Jahren. Beim gemeinsamen Abendmahl tippte nicht jedes Kind auf seinem Smartphone herum und chattete mit aller Welt. Stattdessen redete nur einer, der Vater, und die Kinder hörten mit geröteten Backpflaumengesichtern zu. Und in der Schule herrschte Zucht und Ordnung, da ging alle Gewalt noch vom Lehrer aus. Manche Parteifreunde von Frauke Petry glauben allerdings, dass das gute Früher noch 15 Jahre weiter zurückliegt im Hinblick auf Züchtigung und Ordnung und so weiter.

Der Mensch soll zur Maschine werden

Wann die Grünen das Früher schöner fanden, weiß man nicht, denn eigentlich ist ihnen jede frühere Zeit peinlich, jedenfalls solange es sie selbst betrifft. Aber dass sie sich deswegen auf die Zukunft freuen, lässt sich ihren Gesichtern nicht ansehen. Sie sind froh, dass sie nicht mehr sind, was sie mal waren, aber etwas Neues werden wollen sie auch nicht. Und jeden Tag verraten sie aufs Neue ihre Ideale – es fragt sich nur, wem?

Die CDU gibt sich seit Angela Merkel mit Idealen erst gar nicht mehr ab, die sind idealerweise abgeschafft. Kaum vorstellbar, dass die Partei mal die Partei des Konservativismus und des freien Marktes war, so als ob dieses „und“ irgendeine Verbindung stiftete. Die SPD dagegen möchte weiterhin nichts anderes als die bessere CDU sein, was sie seit langem zur schlechteren macht. Immerhin kippt sie noch einmal ordentlich Erde auf die kommende neue Zeit, damit sie nicht anbricht. Verdienstvollerweise hat sie noch schnell den Mindestlohn durchgesetzt, bevor demnächst die Hälfte aller Menschen in Deutschland schon deshalb keinen mehr beansprucht, weil sie überhaupt keinen Lohn mehr kriegt.

Dieser Text ist entnommen aus dem Handelsblatt Magazin N°1-2017. Mode – Magie und Machtfaktor: Das Handelsblatt Magazin Mode-Spezial widmet sich ganz der Fashionbranche – unterstützt von Donald Schneider als Creative Director, der schon der französischen „Vogue“ und dem „Stern“ ein unverwechselbares Äußeres verlieh. Wie wird man Modemacherin? Victoria Beckham über über das globale Modegeschäft, ihre Erfolgsrezepte und ein Leben als Marke Wofür steht der moderne Mann? Ermenegildo Zegna über sich wandelnde Rollenbilder Wie hat Marc Cain das geschafft? Von der Schwäbischen Alb in die Weltmetropolen Diese Themen und mehr jetzt lesen: Den Digitalpass vier Wochen gratis testen und das komplette Handelsblatt Magazin kostenlos als PDF downloaden – oder die gedruckte Ausgabe mit der Freitagausgabe des Handelsblatts vom 3.3.2017 am Kiosk erwerben. Foto: Handelsblatt

Denn genau das ist das Problem mit aller rückwärtsgewandten Utopie, der Retropie. Sie erfindet Regeln zur Aufrechterhaltung eines vergänglichen Zustandes. Während alle Parteien nach hinten träumen, läuft die Zeit immer schneller vorwärts: Computer, Roboter, Industrie 4.0, 3D-Drucker, semantische Suchmaschinen, autonome Fahrzeuge und ganz viel Freizeit für ganz viele Menschen. Die Arbeitsgesellschaft neigt sich dem Ende zu, das bürgerliche Zeitalter verrinnt, die Tugend der „Tüchtigkeit“ stirbt aus, und unsere Maschinen werden nicht mehr dem Menschen nachgebaut, sondern der Mensch soll werden wie die Maschine. Wie gut, dass das alles nicht in unseren Wahlkämpfen vorkommt, sondern stattdessen ausgerechnet Retropien das große Loch füllen, das man – wie lange noch? – Seele nennt.

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Ohne Utopie kommt die Dystopie

Fällt denn keinem was ein? Zurück zu den alten Griechen! Könnte man doch fordern, wenn man schon die Vergangenheit bemüht. Das wäre wenigstens eine zukunftsweisende Retropie! Die Griechen haben die Demokratie erfunden und trotzdem nicht gearbeitet, genauso wie heute. Aber bevor es zu lustig wird: Dass uns im Jahr 2017 in Deutschland nichts anderes einfällt als zurückzuschauen hat schon etwas Beklemmendes. Denn ohne Utopie kommt die Dystopie, das ganz große Chaos!

Werden unsere Parteien das begreifen, vielleicht schon in diesem Herbst? Oder kämpfen sie weiterhin stillschweigend für das Recht der Utopie, eine Utopie zu bleiben?

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