Frauen im Auktionshaus – Teil 3: Irene Lehr – Auge für übersehene Kunst-Avantgarden

„Es geht mir um künstlerische Qualitäten. Ich bin vom Fach, nicht Juristin“, sagt die Auktionatorin und Gründerin von „Dr. Irene Lehr Kunstauktionen“.
Berlin. Sie kam 1992 aus privatem Interesse nach Berlin. Die Frontstadt war damals dabei, sich nach dem Mauerfall neu zu erfinden. Alles schien möglich. Irene Lehr arbeitete während der Promotion über den Landschaftsmaler Friedrich Kallmorgen für zwei Jahre in einem kleineren Auktionshaus in West-Berlin. Sie fing Feuer für diese Spielart der Kunstvermittlung.
Aber die Wienerin ließ sich nicht gerne sagen, welche – minderwertigen - Werke sich gut verkauften und sie deshalb in den Katalog aufzunehmen habe. Kaum hat sie den Dr. phil. in der Tasche, gründete die junge Kunstwissenschaftlerin 1995 ihr eigenes Unternehmen in Berlin. Die „Dr. Irene Lehr Kunstauktionen“ hat die Chefin auf ihre Person und persönliche Vorlieben zugeschnitten.
Lehr arbeitet viel, denkt blitzschnell, entscheidet zügig. Bei der Auswahl der Kunstwerke für die Versteigerung kennt sie nur ein Kriterium: ihre Augen. Das Werk muss weder groß noch von berühmter Hand sein, aber es muss kunsthistorische Qualitäten aufweisen. Die erkennt sie aber sofort: „Ich bin vom Fach, nicht Juristin“, sagt sie.
Lehnt Irene Lehr Einlieferungen beim Kunden ab, wenden diese oft ein: „Das muss Ihnen doch nicht gefallen. Sie sollen es doch nur verkaufen.“ Lehr, die Eigenwillige, versteigert aber nur, woran sie Vergnügen hat. Sie verbringt schließlich Wochen und Monate mit dem, was sie akzeptiert: Bei der Katalogbeschreibung, beim Fotografieren, beim Lay-out des Katalogs, beim Drucker und bei der Vorbesichtigung in ihren Altbau-Räumen.
Lehrs Konzept und Stringenz führen von Anfang an zu erfreulichen Zahlen, erzählt sie. Noch nie habe sie einen Kredit aufnehmen müssen. „90 Prozent von dem, was ich angeboten bekomme, lehne ich ab.“ Ist sie aber überzeugt, platziert sie auch mal eine Arbeit, die auf nur 500 Euro geschätzt ist, groß im Katalog. Sie möchte, dass auch andere Augen deren künstlerische Bedeutung erkennen.

Am 29. April kommen die „Schwestern“, die in rosa Seide gehüllt Siesta halten, zum Schätzpreis von 200.000 Euro unter den Hammer.
Lehrs Auktionshaus hat Absatzraten von 95 Prozent. Das ist viel, verglichen mit Mitbewerbern. Die strenge Auswahl erspart ihr am Ende sogar das lästige Zurücksenden. Jüngst stieg der Jahresumsatz auf Summen zwischen fünf und sechs Millionen Euro. Viel bei nur zwei Auktionen pro Jahr, vier Festangestellten und bis zu 14 Personen an den Telefonen während der Versteigerung. Klein, ohne Dependance, aber selbstbestimmt, lautet die Devise von Irene Lehr.
Kurz nach der Wiedervereinigung kamen viele Ostdeutsche zu ihr und wollten Gemälde oder Grafik von staatstreuen wie von staatsfernen Künstlern zu Geld machen. Irene Lehr wurde zur Expertin für Kunst aus der DDR, befreundete sich mit Michael Morgner, einem der wichtigen Non-Konformisten Ostdeutschlands. „Das Preis-Leistungs-Verhältnis hat mich überzeugt.“ Als Österreicherin „hatte ich keine Vorbehalte gegen Kunst aus der DDR. Mich interessiert Qualität.“
>> Lesen Sie hier: Lehr Kunstauktionen – Die erste Live-Versteigerung nach dem Lockdown ist ein voller Erfolg
Irene Lehr macht wenig Konzessionen, ist vielleicht deswegen eine unbequeme Chefin. Aber sie liebt, was sie macht – und überzeugt. „Irene Lehr hat von der Schließung des Auktionshauses Hauswedell & Nolte im Jahr 2015 profitiert“, sagt Thomas LeClaire, Händler mit Spezialgebiet Kunst auf Papier in Hamburg. Die wohlhabende Hansestadt ist ein Einliefermarkt, das habe Lehr richtig erkannt.
Druckgrafik wird nur noch von wenigen Auktionshäusern betreut. Hier braucht es großes Wissen über Werkgenese und Zustandsdrucke bei kleiner Gewinnspanne. „Irene Lehr ist sich für nichts zu schade“, meint LeClaire anerkennend. Sie komme auch für weniger wertvolle Einlieferungen und kümmere sich um die Kunst. So entstehe dann plötzlich wieder ein Markt etwa für den Zeichner und Grafiker Horst Janssen oder für den neusachlichen Maler Georg Scholz.
Streng ist die energische Firmengründerin auch bei der Überprüfung der Kreditrahmen von Neukunden. „Von einem, der sich fünf Minuten vor der Auktion anmeldet, lass’ ich mir doch nicht mein Topstück kaputt machen“, sagt sie mit Blick auf Georg Scholz’ gespenstisch arrangierte „Tote Hühner“. Das Küchenstillleben hatte sich auch ohne den abgewiesenen Spätentschlossenen von 100.000 Euro Schätzpreis auf 488.000 Euro brutto heben lassen.

Irene Lehr versteigert am 29. April bekannte und weniger bekannte Meister.
Dieser glänzende Zuschlag hat der Spezialistin für übersehene Avantgarden ein weiteres Gemälde des Gesellschaftsbeobachters und -kritikers Scholz eingebracht. Am 29. April kommen die „Schwestern“, die in rosa Seide gehüllt Siesta halten, unter den Hammer: Malerei vom Feinsten. Der Schätzpreis von 200.000 Euro dürfte sich vervielfachen.
Lehr holt Künstler und Künstlerinnen wieder ins Bewusstsein, die auch den Kenner überraschen. „Vermutlich gibt es kein anderes deutsches Auktionshaus, das sich in den letzten Jahren so dynamisch entwickelt hat“, meint Felix Krämer auf Anfrage des Handelsblatts.
Wie Willy Wolff die Pop-Art einführte
Der Generaldirektor des Museum Kunstpalast in Düsseldorf trifft hier regelmäßig auf ihm zuvor unbekannte Positionen: „Wenn man die Kunst aus Ostdeutschland im Blick hat oder gern Entdeckungen abseits des Kanons machen möchte, dann lohnt der Blick in das Angebot“, ergänzt Krämer.
Bei Lehr traf Krämer auch auf ein Bild von Willy Wolff. Der Dresdener hatte heimlich die Pop-Art in der DDR eingeführt. Das hintergründige Bild „Der gerade Weg“ von 1964 verblüfft mit seiner kühnen Komposition: rein flächig und dazu eine komplette Absage an den Sozialistischen Realismus.
„Ich kannte das Werk des Künstlers vorher nur sehr flüchtig“, erzählt der Düsseldorfer Museumsdirektor. Durch den Erwerb dieser wichtigen Arbeit werde Willy Wolff bei der Wiedereröffnung des Kunstpalasts im August Teil der Schausammlung sein. „Für die meisten Museumsbesucher sicherlich eine Überraschung“, meint Krämer.
Irene Lehr wirkt gut organisiert und tough. Panik kennt sie nicht. Selbst dann nicht, wenn ein Kunde für sein Auktionsgebot telefonisch nicht erreichbar ist. Das sei schließlich das Problem des Kunden. Sie hat meist noch einen Unterbieter und macht cool weiter.
Stress, räumt Lehr dann doch ein, entstehe allerdings vor der Auktion, weil alles immer auf den letzten Drücker komme: Anfragen nach Zustandsberichten, x-verschiedenen Detailfotos oder mehrmaliger Wechsel der für das Bieten bestimmten Telefonnummer bei einem einzigen Kunden. Der natürlich glaubt, er sei der Einzige mit Sonderwünschen.
Lehrs Geheimnis? Sie hat ihr Unternehmen bewusst nicht vergrößert. Sie will Freude ziehen aus dem Umgang mit Kunst. In der leidenschaftlichen Macherin schlummert immer auch die hartnäckige Wissenschaftlerin. Letztere kann nicht mehr aufhören, ist ihr kriminologischer Instinkt einmal geweckt.

In einem langen Disput über Echtheit trug Lehr einen klaren Sieg davon. Nachlass und Beirat wollten Max Beckmanns Gemälde „Gladiolen“ nicht ins Werkverzeichnis aufnehmen. Wieder einmal verließ sich Irene Lehr auf ihr Auge. Am Ende sah sie den unumstößlichen Beweis: In den Röntgenaufnahmen der „Gladiolen“ erkannte sie die Unterzeichnung für ein anderes, bekanntes Beckmann-Gemälde, für „Judith und Holofernes“ aus dem Jahr 1912. Irene Lehrs trockener Kommentar: „Die Wahrheit setzt sich am Ende durch. Man macht sich damit nicht immer Freunde.“






