Neuerscheinung: Abenteuerliche Kunst-Geschichten aus den letzten 17.000 Jahren
Hannover. Ein kluges Buch über die Geschichte der Modernen Kunst zu schreiben, das auch als Standardwerk taugt, traut sich kaum noch jemand zu. Ein Buch zu publizieren, das von den allerersten Anfängen der Kunst bis in die Gegenwart reicht, erst recht niemand.
Zu viele erwartbare Einwände sind zu berücksichtigen. Künstlerinnen müssen selbstredend angemessen vertreten sein, aber die Forschungen dazu sind noch in vollem Gang, deren Ergebnisse noch Stückwerk; Kunst aus Afrika darf nicht fehlen, die postkolonialen Debatten müssen berücksichtigt werden; das Thema Restitution muss vorkommen. Und die schon viel zu lange etablierte Perspektive des alten weißen und nur manchmal auch weisen Akademikers, der seine eurozentrische und also männlich dominierte Sicht auf die Geschichte der Kunst beschreibt, ist schon obsolet geworden. Jedenfalls, wenn es nach den Debatten der letzten Jahrzehnte geht.
Was also tun? Eine sehr überzeugende Lösung präsentiert die britische Kunsthistorikerin und Kunstkritikerin Charlotte Mullins. Sie schreibt nicht die eine Geschichte, sondern gleich 40 Geschichten, die sich unterschiedlichen Epochen und Phänomenen widmen. Sie bilden ein Kaleidoskop von Perspektiven auf das immer gleiche Thema, die Kunst.
Doch das Collagieren ist nur der eine Kunstgriff von Mullins. Der zweite, der ihr Buch so attraktiv macht, ist in der deutschsprachigen Sachbuchliteratur noch selten, meist sogar verpönt. Sie bietet ihren Lesern einen Blick über die Schulter, als würde man selbst den betreffenden Künstlerinnen und Künstlern bei der Arbeit zuschauen.
Mullins inszeniert die Kunstgeschichte der vergangenen Jahrtausende als kurzweilige manchmal auch romantisch angehauchte Abenteuer, denen nie die Quintessenz fehlt. Ein Beispiel: „Südfrankreich vor 17.000 Jahren – zwei Menschen drängen sich durch eine Felsöffnung und folgen einem langen, verschlungenen Höhleneingang. Es ist pechschwarz um sie herum, kein Laut der Außenwelt dringt zu ihnen.“
Wie die ersten steinzeitlichen Höhlen-Reliefs entstehen, beschreibt die Autorin so: Sie „schneiden mithilfe eines scharfen Felssplitters, den sie zu diesem Zweck mitgebracht haben, einen schweren Klumpen Ton aus dem feuchten Höhlenboden. Unter ihren Händen verwandelt sich der Brocken allmählich in zwei Bisons, beide etwa so groß wie der Arm eines Erwachsenen.“
Um dem Kitschverdacht zu entkommen, reflektiert Mullins ihre Erlebnisberichte immer wieder und bringt den Leser dazu, zwischen Eintauchen in fremde Zeiten und Nachdenken zu oszillieren. Das ist durchaus vergnüglich.
Die Geschichte der Kunst. Neu erzählt von Charlotte Mullins
Mit Illustrationen von Mat Pringle
Verlag C. H. Beck
München 2023
464 Seiten mit 173 Abbildungen
38 Euro
Nach gut 450 Seiten, die Jahrtausende durchmessen, endet ihre Geschichte der Kunst ganz aktuell bei dem Thema der künstlichen Intelligenz und der offenen Frage, ob aus dem Künstlichen auch Künstlerisches wird. Zwischendurch gibt es immer wieder kleine Highlights, wenn sie sich der italienischen Barock-Künstlerin Sofonisba Anguissola widmet, auf die flämische Stilllebenmalerin Clara Peeters eingeht oder der amerikanischen Impressionistin Mary Cassatt einige Zeilen widmet.


Mullins schafft oft überraschende Zusammenhänge, bringt etwa Albrecht Dürer mit dem ihn beeinflussenden Gold der Azteken in Zusammenhang und macht damit sofort neugierig auf mehr. Ihre Geschichten sind selten belehrend, sie sind geschrieben, als wäre man im direkten Gespräch mit Charlotte Mullins, elegant wechselnd zwischen einem leicht perlendem Cocktail-Gespräch und nachdenklichem Räsonieren.
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