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BuchrezensionWarum es sich lohnt, Gabor Steingarts „unbequeme Wahrheit“ zu Ende zu lesen

Im neuen Buch von Gabor Steingart finden sich Aussagen, an denen Verschwörungstheoretiker Freude hätten. An anderer Stelle aber trifft es den Nagel auf den Kopf.Sigmar Gabriel 04.09.2020 - 04:02 Uhr Artikel anhören

Haben die Corona-Maßnahmen wirklich zu einer Entdemokratisierung beigetragen, wie Gabor Steingart schreibt? Sigmar Gabriel widerspricht.

Foto: Unsplash

Wer Gabor Steingarts neuestes Buch „Die unbequeme Wahrheit“ nicht bis zum Ende liest, kann schnell den Eindruck gewinnen, hier mache ein libertärer Egoist seiner Wut über die Einschränkungen der Corona-Zeit Luft. Steingarts als Rede getarnte Streitschrift empfängt die Leser mit Sätzen wie: „Erst nahm man uns wichtige Grundrechte weg, als da wären die Gewerbefreiheit, die Bewegungsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit. (…) Ein Regieren mit Notstandsverordnungen (hat) die Tür zum autoritären Durchregieren geöffnet.“ Deutschland und – weil das nicht genug ist – ganz Europa seien auf dem Weg in chinesische Verhältnisse, „in dem das Volk als Masse auftaucht, die nicht gehört, sondern nur geknetet werden muss“.

Und damit auch der Letzte kapiert, dass man den in Deutschland Regierenden nicht über den Weg trauen darf, werden ihre Aussagen auch noch mit Walter Ulbrichts Lüge über den Mauerbau gleichgesetzt. Das Ganze gipfelt dann in der Behauptung, dass die politischen Eliten die Corona-Pandemie ausnutzten, um endlich wieder ihre Allmachtsfantasien ausleben zu können.

So als hätte es die Bilder der sich stapelnden Leichensäcke zu Beginn der Pandemie in Italien und den Vereinigten Staaten nicht gegeben, betreiben die unterschiedlichen Parteien laut Steingart „im stillen Einverständnis ein ehrgeiziges Projekt: Sie wollen vom Volk ihre Souveränität zurück“ – sie also dem Volke rauben.

Wow! Eine schöne Vorlage für die Reden von Verschwörungstheoretikern und Demokratieleugnern auf einer der nächsten Anti-Corona Demonstrationen, möchte man meinen. Fehlt nur noch der Ruf: „Wir sind das Volk.“

Nun ist gewiss nicht alles richtig, alternativlos oder gar zwingend, was die deutsche Politik in den letzten Monaten im Kampf gegen die Corona-Pandemie unternommen hat. In Wahrheit sind Fehler, widersprüchliche Entscheidungen und auch Überregulierung aber normal in einer Krise, in der wir noch heute vor allem eines wissen: dass wir zu wenig wissen über das Virus und seine Folgen.

Deshalb aber die Verpflichtung zum Mundschutz-Tragen, Hygieneregeln, Reisewarnungen und die Begrenzung von öffentlichen Partys gleich zur rapide voranschreitenden Entdemokratisierung zugunsten feuchter Machtträume von Politikern zu überhöhen zeigt nur eines: wie wenig wir uns hierzulande noch daran erinnern, was wirklich die Demokratie aushöhlt und zerstört.

Deutschland wird immer liberaler

Es gab in Deutschland eben gerade keinen Rückgriff auf Notstandsgesetze und Ausnahmezustände in unserer Verfassung. Wo Grundrechte tatsächlich zu stark eingeschränkt wurden, haben unsere Verwaltungs- und Verfassungsgerichte dem ein schnelles Ende gesetzt. Schon in früheren Jahrzehnten – denken wir nur an die Anti-Terrorgesetzgebung gegen die RAF – stand mit jedem staatlichen Handeln angeblich immer gleich das Ende des liberalen Rechtsstaats bevor. In Wahrheit wurde die Republik bis heute von Jahr zu Jahr liberaler.

Diese Art der Überzeichnung des aktuellen Regierungshandelns ist nur in einem Land denkbar, dessen Kurve der Corona-Toten vergleichsweise flach verlaufen ist. Es ist seit vielen Jahren üblich, politische Entscheidungen nach einer Krise als unzureichend, fehlerhaft und in vielen Fällen auch als vollständig falsch zu bewerten. Das ist schon deshalb leicht, weil niemand im Nachhinein beurteilen kann, was eigentlich die Folgen einer anderen Politik gewesen wären als derjenigen, die man gerade mit Abscheu und Empörung zu ewiger Verdammnis verurteilt. Das allerdings ist im Falle der Corona-Pandemie anders.

Gabor Steingart: Die unbequeme Wahrheit. Rede zur Lage unserer Nation. Penguin 208 Seiten 16 Euro Foto: Handelsblatt

Wir können dieses Mal vergleichen, wie die Folgen der deutschen Corona-Politik aussehen und wie die anderer Staaten. So liegt die Zahl der Todesfälle je einer Million Einwohnerinnen und Einwohner in Großbritannien bei 610, in den USA bei 558, in Frankreich bei 468 – und in Deutschland bei 112.

Ganz offensichtlich muss also die deutsche Politik irgendetwas richtig gemacht haben. Wie sähen wohl die journalistischen Kommentare aus, wenn Deutschland aufgrund des Verzichts auf Einschränkungen fünf bis sechs Mal so viele Tote aufzuweisen hätte?

Um Gabor Steingarts „Rede zur Lage der Nation“ gerecht zu werden, muss man allerdings weiterlesen. Und nachdem der liberale Freigeist sich seinen Frust über die Corona-Entscheidungen der deutschen Politik vom Leib geschrieben hat, wird das Buch tatsächlich zu so etwas wie der produktiven „Ruhestörung“, die der Autor sich vorgenommen hat.

Der eigentliche Kern des Buches beschäftigt sich mit etwas wirklich Gefährlichem: der deutschen Wohlstandsillusion, die von ihrer eigenen Ewigkeitsgarantie überzeugt scheint und in Wahrheit doch so sehr gefährdet ist wie nie zuvor in den letzten 70 Jahren.

Tatsächlich beschleunigt Covid-19 Veränderungen, die lange vor Ausbruch der Pandemie sichtbar waren: Deutschlands Erfolgsmodell basiert seit mehr als 150 Jahren darauf, dass wir schneller und besser neue Produkte und Verfahren entwickeln konnten als alle unsere Wettbewerber. Seit einigen Jahren aber wächst der Teil der Wertschöpfung, der nicht auf dem Produkt, sondern auf den damit verbundenen Datenplattformen beruht. Die aber beherrschen nicht Deutschland und auch nicht Europa, sondern eine Handvoll amerikanischer und zwei Hände voll chinesischer Unternehmen.

Schon vor Ausbruch der Pandemie war der Export aus dem verarbeitenden Gewerbe und der Industrie nicht mehr Deutschlands Wachstumstreiber, sondern erstmals das, was die Ökonomen Binnennachfrage nennen, also der Konsum. Covid-19 wirkte auf diese Entwicklung wie ein Brandbeschleuniger.

Zwiespältiges Urteil.

Foto: Wolfgang Borrs, Euroforum

Gabor Steingart trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt: „Alle sagen, das bisher unbekannte Virus sei schuld, aber in Wahrheit ist das Virus nur der Überbringer einer Botschaft, die von der Verwandlung der Welt erzählt.“ Und tatsächlich steckt die eigentliche Herausforderung für unser Wohlstandsmodell nicht in der Bekämpfung der Pandemie. Spätestens wenn ein Impfstoff oder Medikament gefunden ist, werden wir merken, dass zum Beispiel der gewaltige Wandel in der Mobilität und die dramatischen Folgen für die Beschäftigung in der Autoindustrie nichts mit dem Virus zu tun haben.

Hier trifft auch Steingarts Kritik an der aktuellen Politik zu: „Wenn unsere Rettungspolitiker mit vielen Milliarden versuchen, das Ende des Industriezeitalters gegen den Aufmarsch intelligenter Roboter und das Entstehen einer entstofflichten Datenökonomie zu verteidigen, so übersehen sie, dass sie damit auch dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft die Grundlage entziehen.“

Steingart greift dabei auf ein Bild zurück, das er schon in einer früheren Streitschrift „Deutschland. Der Abstieg eines Superstars“ (2004) benutzt hat: Der produktive Kern unserer Volkswirtschaft – darunter versteht der Autor vor allem Technologie und technische Innovation  – wird kleiner und der darauf angewiesene nicht-produktive Teil immer größer. Und alles, was wir außerhalb des produktiven Kerns unserer Volkswirtschaft vorhalten, muss vorher erarbeitet und finanziert werden. Die Grundlagen dafür erodieren.

Wo ist das neue Aufstiegsversprechen?

Die Analyse des Autors jedenfalls stimmt: Wir reden und handeln nicht erst seit der Corona-Pandemie mehr mit Blick auf die Vergangenheit und Gegenwart als auf die Zukunft. Steingart plädiert leidenschaftlich für das Gegenteil. Man fragt sich angesichts der politischen Stille im Land, die dröhnend wird, sobald es um die Zukunft geht: Warum gibt es eigentlich keine politische Partei in Deutschland, die so kraftvoll und kompromisslos sagt, worum es geht – um eine gemeinsame Kraftanstrengung, damit unsere Kinder und Enkel auf dem europäischen Kontinent souverän entscheiden können, wie sie leben wollen, und nicht von anderen gesagt bekommen, wie sie zu leben haben?

Gerade Liberale und Sozialdemokraten müssten doch wissen, dass es dafür einer Voraussetzung bedarf: Anstrengung! Nicht im Sinne von „den Gürtel enger schnallen“, denn es gibt im Land schon zu viele, deren Gürtelschnalle im letzten Loch angekommen ist. Sondern eher „Ärmel hochkrempeln“. Gerhard Schröder hat in einer vergleichbaren Situation gezeigt, dass man damit sogar Wahlen erfolgreicher bestreiten kann als mit der Fortschreibung von Wohlstandsillusionen.

Steingart fordert zur Gegenwehr auf. Sein Buch enthält ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, sich nicht abzufinden, sondern das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Und um das Ziel dieses Engagements festzulegen, greift er auf die fast vergessene „Lissabon-Strategie“ Europas zurück, mit der die Europäische Union im Jahr 2000 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Raum der Welt“ werden wollte.

Gabor Steingart will kein neues Narrativ erfinden, aber ein in der Vergangenheit durchaus erfolgreiches freilegen und erneut nutzbar machen. Er ruft nach Erneuerung des „Aufstiegsversprechens, das mit Investitionen in Sprache, Bildung, in Digitalisierung und freie Forschung unterlegt gehört“.

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Anders als bei seiner scharfen Kritik an den politischen Akteuren kalkuliert er hier Fehler und Irrtümer ein, denn: „Nur die Helden mittelmäßiger Filme lösen ihre Probleme.“ Ein bisschen von dieser altersgemäßen Weisheit hätte dem ersten Teil des Buches gutgetan.

Der Autor dieses Artikels war Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister sowie SPD-Vorsitzender. Heute ist er Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Bank und Siemens Energy.

Mehr: Buchrezension: Die Rolle des Staates könnte sich nach der Krise verändern

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