1. Startseite
  2. Arts und Style
  3. Literatur
  4. Rezension: Warum man Mädchen vor dem Mathetest nicht nach ihrem Geschlecht fragen sollte

RezensionWarum man Mädchen vor dem Mathetest nicht nach ihrem Geschlecht fragen sollte

Bildungskrise? Ja, aber nicht nur beim Lesen, Rechnen Schreiben. Die Demokratie und der Standort Deutschland sind in Gefahr. Wie können wir die Jugend besser auf die Zukunft vorbereiten? Vier Bücher gegen die Resignation.Barbara Gillmann 28.01.2024 - 17:53 Uhr
Vier Bücher beschäftigen sich damit, wie es gelingen kann, die Schulen – und damit auch die Kinder – zukunftsfähig zu machen. Foto: IMAGO/SuperStock

Berlin. Die Probleme deutscher Schulen sind nicht nur enorm, sie werden stetig größer. Das jüngste Desaster bei Pisa ist nur das augenfälligste. Ein veraltetes System, steigende psychische Probleme bei Schülerinnen und Schülern – nicht nur durch Corona –, dazu die – nicht nur positiven – Herausforderungen des Internets.

Wie kann es gelingen, die Schülerinnen und Schüler vorzubereiten auf die Zukunft? Auf all die Krisen und Probleme, die es zu lösen gilt in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft? 

Vier Bücher beschäftigen sich damit, wie es gelingen kann, die Schulen – und damit auch die Kinder – zukunftsfähig zu machen. Sie machen Mut und geben praktische Hilfestellung – Lehrern und Eltern und Politikern.

Das System modernisieren

Wussten Sie, dass Lob massiv schaden kann? Dass Kinder, die zu oft Sätze wie „Du bist ja schlau!“ hören, tendenziell nachlassen – und aus Angst, zu scheitern und den Nimbus der besonders Begabten zu verlieren, neue Herausforderungen meiden? Dass ein Lob sich eher auf die Anstrengung an sich beziehen soll, unabhängig vom Ergebnis? Damit auch weniger Begabte Motivation haben, mehr zu leisten? Und dass Mädchen in Mathetests messbar schlechter abschneiden, wenn sie zuvor ihr Geschlecht angeben müssen?

Wie entscheidend „Neuroplastizität" für unser Lernen ist, beschreibt die Psychologin Verena Friederike Hasel in „Das krisenfeste Kind". Viele Menschen – auch Lehrer – würden glauben, dass Intelligenz angeboren ist. Die Forschung hat jedoch herausgefunden, dass das Gehirn je nach Tätigkeit wächst oder umgebaut wird. So stellte sich etwa bei Londoner Taxifahrern heraus, die für ihre Prüfung 25.000 Straßen auswendig lernen mussten, dass damit ihr Hippocampus, die Hirnregion, in der das Gedächtnis sitzt, gewachsen war.

Verena Friederike Hasel: Das krisenfeste Kind
Kein und Aber
Zürich 2023
240 Seiten
22 Euro

Hasel verdeutlicht anhand vieler solcher überraschender – und für den Lernalltag von gut zehn Millionen Schülern in Deutschland entscheidender – Erkenntnisse die Bildungssituation in Deutschland. Unterhaltsam zu lesen ist das vor allem, weil sie sich dabei an Unterrichtssituationen in finnischen und progressiven deutschen Schulen entlanghangelt. Dass die Finnen im jüngsten Pisa-Test, kurz nach Erscheinen des Buches, ihre Stellung als Pisa-Überflieger eingebüßt haben, schmälert zwar etwas die Überzeugungskraft des finnischen Systems insgesamt. Die Beispiele sind dennoch äußerst inspirierend. Finnische Pädagogen vertreten die Einstellung: „Jede Vier ist eine Niederlage für den Lehrer." Manche Lehrer in Deutschland geben einzelne Schüler schon wenige Wochen nach Schuljahresbeginn quasi verloren.

OECD-Schülertest

Deutsche Schüler bei Pisa-Studie so schlecht wie noch nie

Dabei können kleine psychologische Tricks Erstaunliches bewirken: Schlechte Neuntklässler, die zu Beginn des Jahres zweimal einen 25-minütigen Online-Beitrag dazu sehen, wie sehr sich Anstrengung lohnen kann, schneiden am Ende des Schuljahres besser ab als die ohne diesen Input. Ein vermeintlich banales Beispiel: Man merkt sich Studien zufolge einen Text besser, wenn er nicht ganz mittig auf der Seite steht. Und schlecht gelaunte Lehrer bewerten bis zu zwei Noten schlechter. 

Einen erfreulich frischen Überblick über die zahlreichen Baustellen unseres Schulsystems bietet der erst 20-jährige Lennart-Elias Seimetz in „Total überfordert, total kaputt, total wichtig". Das liegt vor allem daran, dass er das System nicht aus der sattsam bekannten Lehrer-, Politiker- oder Expertenperspektive betrachtet. Er berichtet als Vertreter der größten Gruppe des Systems, die zugleich am wenigsten gehört wird: als Schüler. Seimetz kennt das System sehr genau, denn er hat jahrelange Erfahrung in der Schülermitverwaltung – bis hin zur Bundesschülerkonferenz.

Lennart-Elias Seimetz: Total überfordert, total kaputt, total wichtig
Dietz, J.H.W., Nachf.
Bonn 2023
151 Seiten
15 Euro

Das führt zu unkonventionellen Einsichten wie etwa der Ähnlichkeit zwischen Schule und katholischer Kirche: in beiden Systemen regiere „Verwaltung ohne Gewaltenteilung", keine unabhängige Instanz kontrolliere in der Schule, ob Vorgaben eingehalten werden.

Demokratie lernen

Die Tatsache, dass die Schule die einzige Institution ist, die alle Kinder und Jugendlichen erreicht und so fit für die Demokratie machen kann, gewinnt in diesen Zeiten, in denen die Rechte erstarkt, die Wahlbeteiligung teilweise unter 60 Prozent liegt und die Furcht vor einem Schaden für die Demokratie  die Menschen auf die Straße treibt, neu an Brisanz. Der Philosoph und frühere Kulturstaatsminister unter Gerhard Schröder, Julian Nida-Rümelin, hat mit dem Erziehungswissenschaftler Klaus Zierer dazu das Plädoyer „Demokratie in die Köpfe – warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidet" verfasst. Das wirkt allerdings nur auf den ersten Blick flammend.

Eloquent liefern die Autoren den theoretischen Überbau, definieren Demokratie – und was Bildung idealerweise sein sollte. Ihre Übersicht über politische Bildung im engeren Sinne, den Politikunterricht, verdeutlicht: Sie spielt im System bisher nur eine Nebenrolle. In keinem Bundesland ist sie in Mittel- und Oberstufe durchgehend verbindlich, in sechs Ländern schließt sogar die Oberstufe ohne Pflicht-Politikunterricht ab. Erst in den Berufsschulen ist Politik in jedem Jahr obligatorisch.

Julian Nida-Rümelin, Klaus Zierer: Demokratie in die Köpfe
S. Hirzel Verlag
Leipzig 2023
200 Seiten
26 Euro

Zierer und Nida-Rümelin identifizieren trotz gegenteiliger Versprechen der Kultusminister eine „Kultur der Autorität und des Gehorsams", die ebenso wenig demokratieverträglich sei wie die „Kultur der Intoleranz gegenüber abweichenden Lebensformen und Auffassungen".

Dünn gerät allerdings der Teil mit den Vorschlägen, wie Schule hier auch ganz praktisch vorbeugen kann – jenseits des Politikunterrichts. Klassische Mitverwaltung, Epochenunterricht, der fächerübergreifend aktuelle Themen wie den Klimawandel behandelt, Lernen durch Engagement in Einrichtungen außerhalb der Schule oder auch Debatten über klassische Dilemmata – alles nicht wirklich neu.

Mitreißender kommt da Seimetz' Schilderung daher, wie ihn die SMV, Schülerparlamente und Schülerräte schon früh begeisterten, wie sehr es ihn beflügelte, auch als Minderjähriger schon Einfluss haben zu können. So folgt man auch seinen leidenschaftlichen Forderungen, diese klassische Demokratieschulung weit mehr zu fördern, dafür zu sorgen, dass Schülermitverwaltung auch flächendeckend umgesetzt  und durch Schulleitungen unterstützt wird und so Demokratie für viele Schüler schon früh erfahrbar wird.  

Das Netz überleben

Ein Thema, das allgegenwärtig, aber noch viel zu wenig im Bewusstsein ist, spricht Silke Müller in ihrem Buch „Wir verlieren unsere Kinder!" an: die dunkle Flut an Grausamkeit, Gewalt, Pornografie und ganz persönlicher Erniedrigung, die Kinder im Netz und den (a)sozialen Medien zu verschlingen droht. Wer das pathetisch und überzogen findet und glaubt, es sei mit dem Filter in der Fritz-Box und der Reduzierung der Smartphone-Zeit für die Söhne und Töchter getan, lese Müllers Warnung über „Gewalt, Missbrauch, Rassismus - der verstörende Alltag im Klassenchat".

Müller ist nicht irgendeine Schulleiterin. Sie leitet eine seit Jahren bekannte digitale Vorreiterschule und ist niedersächsische Digitalbotschafterin – digitaler Fortschrittsfeindlichkeit also völlig unverdächtig. Was sie aus ihrem Alltag an einer normalen weiterführenden Kleinstadt-Schule berichtet, ist mehr als erschreckend.

Silke Müller: Wir verlieren unsere Kinder!
Droemer HC
München 2023
224 Seiten
24 Euro

Da ist die 12-Jährige mit dem Dickpic, also einem Foto eines erigierten Gliedes, die das „als ganz normale" Tiktok-Challenge erklärt, bei der es darum ging, welches Mädel am schnellsten ein solches Foto organisieren kann. Oder der Trend, „Dinge, für die ich blowen würde", also einen Mann oral befriedigen, in dem es um Luxusartikel geht, die sich Teenies wünschen. Videos, in dem erwachsene Männer immer wieder auf einen Welpen eintreten. Oder das im Schulbus „geairdropte", also an alle Anwesenden verschickte Video, auf dem die Kastration eines nicht narkotisierten Mannes mit einem Skalpell zu sehen ist. Im Schulbus, auf Smartphones aller Altersklassen. Oder der Sticker – eines der oft lustigen Bildchen, die etwa an eine WhatsApp-Nachricht angehängt sind –, der die Vergewaltigung einer Grundschülerin zeigt.

Die Liste ließe sich fortsetzen mit aktuellen Kriegsgräueltaten oder den verbreiteten „Hitler-Memes“. Müller schildert all das schonungslos, um aufzurütteln. Denn, so ihre flammende Warnung: Eltern und Lehrer kennen all dies aus ihrer eigenen Kindheit und Jugend nicht und „sehen sehr gern weg".

Verwandte Themen Deutschland Schule Gerhard Schröder Berlin

Natürlich ist all das illegal, doch Unmengen davon werden weder gemeldet noch angezeigt. Unternehmen brauchen zu lange zum Löschen, und selbst dann ist das Material längst tausendfach weitergegeben und überlebt als Screenshot. Dazu kommen die digitalen Mobbing-Aktionen: Jugendliche, die intime Fotos und Filme der Ex-Freundin publizieren, weil die sich getrennt hat. Erniedrigende Fotos mit hämischen Kommentaren im Klassenchat. 

Was tun? Natürlich nicht das Handy verbieten, schreibt Müller, denn das isoliert Kids. Ihre eigene Schule hat eine vertrauliche Medien-Sprechstunde eingerichtet, die intensiv genutzt wird, und informiert und sensibilisiert regelmäßig die Eltern. Doch die Politik müsse die meist hilflosen Pädagogen intensiv und flächendeckend schulen. Vor allem die Eltern fordert sie auf: „Seht hin! Meldet euch selbst bei Tiktok an, redet mit euren oft vertrauensseligen Kids." Um Schaden abzuwenden, Verletzungen zu heilen und sich so auch der allgemeinen Verrohung entgegenzustemmen.

Mehr: Neue Kultusminister-Präsidentin: „In den Köpfen der Lehrer muss sich noch einiges ändern." 

Mehr zum Thema
Unsere Partner
Anzeige
remind.me
Jetziges Strom-/Gaspreistief nutzen, bevor die Preise wieder steigen
Anzeige
Homeday
Immobilienbewertung von Homeday - kostenlos, unverbindlich & schnell
Anzeige
IT Boltwise
Fachmagazin in Deutschland mit Fokus auf Künstliche Intelligenz und Robotik
Anzeige
Presseportal
Direkt hier lesen!
Anzeige
STELLENMARKT
Mit unserem Karriere-Portal den Traumjob finden
Anzeige
Expertentesten.de
Produktvergleich - schnell zum besten Produkt