Gastkommentar – Expertenrat: Zu viele Pillen und OPs: Warum in der Medizin weniger oft mehr ist

Medikamente werden oft unnötigerweise geschluckt.
Um es plakativ zu sagen: Wir schlucken in Deutschland zu viele Medikamente und operieren zu häufig. Unser gesamtes medizinisches System ist seit Jahrzehnten auf Wachstum und neue Technologien ausgerichtet. Natürlich nicht im Einzelfall, aber unter dem Strich leben gerade Manager und Unternehmer in Deutschland auch deshalb in einer Situation der medizinischen Überversorgung.
Ganze Kongresse beschäftigen sich inzwischen mit dem Thema „Choosing wisely“ – also mit der Frage, was für Patienten mit bestimmten Beschwerden ein reduzierter Ansatz der Heilung sein kann. Wir brauchen in Summe klügere Entscheidungen bei Diagnostik und Therapie. Bei der Bekämpfung von Krankheiten ist weniger oft mehr.
Voraussetzung dafür ist ein Klima der offenen Diskussion zwischen Ärzten und ihren Patienten. Viele medizinische Fachgesellschaften empfehlen ihren Kollegen dabei mehr Mut, von bestimmten Behandlungen abzuraten.
Die Kunst des Tuns oder Lassens müssen viele jüngere Mediziner erst noch erlernen. Sie sind darauf sozialisiert, mit einem Maximum zu behandeln. Das Ziel sollte eher eine deutlich individuellere Medizin sein. Der bewusste Verzicht auf Maßnahmen kann manchmal die bessere Entscheidung sein, für den Arzt und den Patienten.
Kernstück des Choosing-wisely-Ansatzes sind Listen aus jeder klinischen Disziplin mit Behandlungen, die in der Regel unnötig oder zumindest diskussionswürdig sind. Lassen Sie mich aus Sicht des Internisten nur einige Beispiele aufführen, wo die Risiken vermutlich den Nutzen übersteigen:
Wird bei Krebsverdacht zu häufig operiert?
Neben der Einnahme unnötiger Chemie sind voreilige Operationen der zweite Pfeiler meiner Argumentation. Ich habe kürzlich zwei Patienten gesehen, die komplizierte Operationen an der Bauchspeicheldrüse hinter sich hatten. In beiden Fällen war allein der Verdacht auf Krebs in der Bauchspeicheldrüse ausschlaggebend für die Operationen.
Die Gewebeanalysen zeigten dann aber, dass lediglich Entzündungen vorlagen. Die häufige Diagnose Krebs mit kurzfristiger Operation hängt auch damit zusammen, dass mit modernsten bildgebenden Untersuchungsmethoden Ärzte heute kleinste Tumore in Organen, etwa der Schilddrüse, entdecken.
Auch Knieoperationen werden zu häufig in Form von Arthroskopien bei Meniskusanrissen durchgeführt. Die Erfahrung zeigt, dass konservative Therapien oft zu einer mittel- bis langfristigen Beschwerdefreiheit führen können. Zu den möglicherweise entbehrlichen Operationen gehören Eingriffe an der Wirbelsäule. Oft werden Regionen operiert, die mit der Schmerzentstehung gar nichts zu tun haben, oder postoperative Narbenbildung trägt zu zusätzlichen Schmerzen bei.
Wer als Patient weniger Medikamente einnehmen will und sich bei Beschwerden nicht immer gleich operieren lässt, findet damit gegebenenfalls zurück zu seinem biologischen Potenzial. Zu diesem bewussteren Ansatz einer „smarten Medizin“ gehört es also für den Einzelnen auch, sich und seinen persönlichen Lebensstil zu überprüfen, um gesünder zu leben, statt immer nur nach der nächsten Pille zu greifen.



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