Gastkommentar Die EU muss sich von den USA emanzipieren und Fernostpolitik nach dem Vorbild Willy Brandts betreiben

Stefan Baron war Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“ und Kommunikationschef der Deutschen Bank. Er ist Mitverfasser des preisgekrönten Bestsellers „Die Chinesen– Psychogramm einer Weltmacht“. In diesen Tagen ist sein neues Buch „Ami go home – eine Neuvermessung der Welt“ erschienen
Geschichte heißt Veränderung. Der (Wieder-)Aufstieg Asiens und insbesondere Chinas verschiebt den Schwerpunkt der Weltwirtschaft und Weltpolitik zunehmend vom Westen in den Osten – entsprechend selbstbewusst traten Chinas Spitzenpolitiker jüngst bei der Tagung des Nationalen Volkskongresses in Peking auf.
Nach der großen Finanzkrise hat die Corona-Pandemie diesen Trend weiter beschleunigt. Historisch gesehen kehrt die Welt damit zu einem „Normalzustand“ zurück. Denn bis vor 200 Jahren lag ihr Gravitationszentrum stets in Asien.
Die USA reagierten bereits unter Präsident Barack Obama auf die geopolitische Machtverschiebung und richteten ihren strategischen Fokus verstärkt auf Asien. Europa hingegen blickt bis heute vor allem auf den „großen Bruder“ jenseits des Atlantiks.
Zwar hat unser Kontinent keine globale Vormachtstellung zu verlieren wie die USA; Chinas Aufstieg und mehr noch Washingtons Antwort darauf wirken sich aber massiv auch auf europäische Interessen aus – und erfordern ein Umdenken. Denn ändern sich die Verhältnisse, muss dies auch die Politik tun.
Amerikas und Europas Interessen sind nicht mehr dieselben. Anders als für die USA stellt China für unseren Kontinent weniger eine Bedrohung als eine Chance dar. Eine Bedrohung resultiert für Europa dagegen aus der Weigerung Washingtons, seine globale Hegemoniestellung aufzugeben, und dem Versuch, Pekings weiteren Aufstieg zu konterkarieren.
Eine strategische Kooperation mit China etwa bei der Initiative „Neue Seidenstraße“ böte Europa und speziell Deutschland beträchtliche Wachstumschancen. Zugleich könnte die Zusammenarbeit das Problem der Massenmigration aus Asien und Afrika, die Europa zu destabilisieren droht, erheblich entschärfen.
Mit einer ebenso klugen wie selbstbewussten Fernostpolitik nach dem Vorbild von Willy Brandts Ostpolitik könnte Europa überdies eine führende Rolle bei der Bildung einer multipolaren Weltordnung spielen und einen Kalten Krieg 2.0 oder gar bewaffnete Konflikte zwischen den USA und China (plus Russland) verhindern, die uns alle ins Unglück stürzen würden. Damit gewönne die EU nicht zuletzt auch eine kraftvolle Erzählung – und könnte ihre Bevölkerung neu für das europäische Einigungs- und Integrationsprojekt motivieren.
Im geopolitischen Wettstreit zwischen den USA und China darf Europa nicht bloß Beobachter sein – und es muss sich auch nicht für eine Seite entscheiden, wie manche Politiker meinen. Europa muss vielmehr seine eigenen Interessen verfolgen, seinen eigenen Weg gehen und sich von Amerika emanzipieren.
Wer fürchtet, ein solcher dritter Weg, der sich auf die Prinzipien der friedlichen Koexistenz und des Völkerrechts stützt, werde unseren Kontinent am Ende in eine Kolonie Chinas verwandeln, verkennt nicht nur die Kultur dieses Landes und seine geopolitischen Absichten; er hat auch Europa als eigenständige Größe bereits abgeschrieben, kann sich den alten Kontinent offenbar nur noch als Wurmfortsatz Washingtons vorstellen.
Sich von den USA zu emanzipieren bedeutet nicht, die Pax Americana, die zuletzt allerdings nicht mehr viel Friedliches hatte, durch eine Pax Sinica zu ersetzen. Monopole jeder Art sind schädlich, in der Politik noch mehr als in der Wirtschaft. Sich aus den Armen Amerikas zu lösen heißt nicht, sich in die Arme Chinas zu werfen.
Dies wäre geradezu widersinnig. China teilt unsere Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten nicht einmal auf dem Papier. Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben.
Konstruktive Zusammenarbeit statt Konfrontation
Mit dem wichtigsten Handelspartner, dem bevölkerungsreichsten Land der Erde und der größten Volkswirtschaft zum beiderseitigen Nutzen zusammenzuarbeiten heißt keineswegs, bestehende ideologische Gegensätze zu ignorieren. Es bedeutet nur, eigene Ideale nicht auf die gesamte Welt zu projizieren sowie andere Zivilisationen mit anderer Geschichte, anderen Wertvorstellungen und einem anderen Entwicklungsstand zu respektieren.
Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte gedeihen besser durch kritisch-konstruktive Zusammenarbeit als durch eine Politik der Konfrontation, des Regimewechsels und Kalten Kriegs. Dass eine Emanzipation und stärker eurasische Orientierung Europas nicht auf eine vollständige oder endgültige Abkehr von Amerika hinausläuft, versteht sich von selbst. Wahr ist aber auch, dass die Vereinigten Staaten die „westlichen Werte“ nicht mehr allzu glaubwürdig verkörpern.
Ein von den USA unabhängiges Europa, das diese Werte auch im internationalen Umgang vorlebt und auf ihre Strahlkraft in einem friedlichen Wettbewerb der Systeme setzt, kann ihnen wieder neuen Glanz geben. Im politischen, wirtschaftlichen und militärischen Schlepptau der USA jedoch wird sich Europa nicht mehr überzeugend als Hort des Friedens, der Freiheit und Menschenrechte präsentieren können.
Schon die von der Europäischen Union beabsichtigte Vorreiterrolle bei der Rettung der Welt vor einem ökologischen Armageddon verlangt eine Emanzipation von den USA mit ihrer starken Ölförderindustrie. Das gilt auch nach der Rückkehr Washingtons in das Pariser Klimaschutzabkommen.
Es ist eine Illusion zu glauben, Peking würde im Kampf gegen den Klimawandel eng mit dem Westen kooperieren, während dieser Chinas weiteren Aufstieg zugleich abbremst, wo er nur kann. Genauso war es eine Illusion zu glauben, man könne ein derart großes und traditionsreiches Land mit zunehmender wirtschaftlicher Entwicklung zu einem Abziehbild des Westens machen.
Als Billigproduzent war China dem Westen willkommen
In der Ära Mao Zedongs war der Graben zwischen China und dem Westen viel breiter und tiefer als heute. In der ideologischen und geopolitischen Auseinandersetzung mit der damaligen Sowjetunion hielt das Washington in den 1970er-Jahren nicht davon ab, Peking auf seine Seite zu ziehen, die gegenüber China verhängte jahrzehntelange Wirtschaftsblockade aufzuheben, wieder diplomatische Beziehungen mit dem Land aufzunehmen und es als ständiges Mitglied in den Uno-Sicherheitsrat zu holen.
Auch als Billigproduzent simpler Massenware war das sozialistische China dem Westen lange hochwillkommen. Als Gegner oder Feind wird China erst wahrgenommen, seit es sich zu einem ernsthaften Wettbewerber aufgeschwungen hat. Aber nicht nur aus diesen Gründen ist die Verteufelung Chinas vor allem durch die USA so unglaubwürdig.
In den Vereinigten Staaten sind Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte selbst längst nicht mehr das, was sie einmal gewesen sein mögen. Das „Land der Freien“ ist zu einer Plutokratie verkommen, sogar der friedliche Machtwechsel durch Wahlen scheint im „Musterland der Demokratie“ nicht mehr selbstverständlich.
Die Welt steht an einem historischen Wendepunkt. In diesem Jahrzehnt wird sich entscheiden, wie das gesamte 21. Jahrhundert verläuft. Viel hängt davon ab, welchen Weg Europa einschlägt. Nur wenn es den Mut aufbringt, sich von Amerika zu emanzipieren, es die Fahne der „westlichen Werte“ hochhält, echte strategische Autonomie erlangt sowie Washington und Peking auf Augenhöhe gegenübertritt, darf die Welt eine gute Zukunft erwarten.
Der Autor war Chefredakteur der „Wirtschaftswoche“ und Kommunikationschef der Deutschen Bank. Er ist Mitverfasser des preisgekrönten Bestsellers „Die Chinesen– Psychogramm einer Weltmacht“. In diesen Tagen ist sein neues Buch „Ami go home – eine Neuvermessung der Welt“ erschienen.
Mehr: Bidens Klima-Kehrtwende eröffnet neue Front gegen Peking
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Das weichgespülte China-Bild von Herrn Baron hält der Realität doch nicht stand und die Hoffnungen auf Wandel durch Handel haben sich nicht erfüllt. Stattdessen wird das Riesenreich dank moderner Überwachungstechniken immer totalitärer und im Außenauftritt agressiver. Welchen Wert Vereinbarungen mit dem roten Drachen haben, lässt sich gerade in Hongkong besichtigen. Dem Leid der Opfer wird Herr Baron durch banale Hinweise auf kulturelle Unterschiede in keinster Weise gerecht und ein Blick auf den "Volkskongress" (tausende einfältige, devote, nickende Klatschmeister) lässt einen erschaudern. Das alles wird relativiert wird dem saloppen Hinweis darauf, dass in den USA auch nicht alles zum Besten steht. Und dann wird auch noch Willy Brandt bemüht. Willy Brandt wußte sehr wohl, auf wessen Seite er stand und dass der Schulterschluss mit den USA die wesentliche Voraussetzung für eine Annäherung an den Ostblock war. Nein Herr Baron, Appeasement war noch nie eine gute Option gegenüber aufstrebenden totalitären Mächten. Es bedarf einer klaren Haltung im Schulterschluss mit den USA und den asiatischen Demokratien, es bedarf der Solidarität mit Taiwan (uneingeschränkte Anerkennung als souveräner Staat) und der nordkoreanischen Marionette des roten Drachens sollte die westliche Welt auch nichts mehr durchgehen lassen. Auch wenn Herr Baron den Unterschied zwischen den USA und China kaum zu erkennen vermag, sei der Hinweis erlaubt, dass jeder Flüchtling auf dieser Welt genau weiß, wo er hin möchte und wo nicht. Von Schlangen an Chinas Grenzen habe ich noch nichts gehört.
Wer bitte in der EU soll zu sowas in der Lage sein? Der Wanderzirkus ist doch noch zu blöd einen Impfstoff zu bestellen. Als Kommentar zu Herrn Faust: Ihre Freund waren offensichtlich als Tourusten unterwegs, sonst könnte keiner so einen Nonsens behaupten. Ich habe jahrelang in USA und Kanada gelebt und hatte auch jahrelang geschäftlich in China zu tun. Ihre Vergleiche sind Unsinn. Die meisten Europäer verstehen noch nicht einmal wie Chinesen denken.
Europa muss eine eigene Position zu China entwickeln und darf nicht einfach im letzten Waggon des US-Zugs mitfahren. China wird eine Weltmacht bleiben, ob es der Westen will oder nicht. Sich dies klarzumachen und dann eigenständige Entscheidungen zu treffen, ist Aufgabe vorausschauender europäischer Politik. Unreflektiert US-Positionen zu übernehmen ist es nicht.
Das sehe ich genauso. Schon aus der geographischen Lage ergibt sich die Möglichkeit einer Emanzipation. Ich war nie in den USA bin aber als 66 Generation im Geiste der amerikanischen Kultur aufgewachsen. Viele meiner Freunde, die in den USA waren aber auch in China, sagen mir, dass zum Teil es viel mehr Ähnlichkeiten mit den Chinesen und uns gibt als den Amerikanern. Wir denken zwar, dass die Amerikaner zum großen Teil von den Europäern abstammen und daher uns ähneln, das sei aber oft ein Trugschluss. Vorbehalte habe ich gegenüber beiden Mächten, wenn auch unterschiedliche. Eine kluge Moderationspolitik Europas könnte in der Tat allen helfen.