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Gastkommentar – Homo oeconomicusEine entfesselte Wirtschaft ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen

Corona-Pandemie und Klimakrise haben uns gezeigt, dass der Mensch und das Ökosystem verletzlich sind. Wir dürfen die Materialschlachten nicht fortsetzen, fordert Uta Meier-Gräwe. 23.09.2021 - 14:48 Uhr Artikel anhören

Deutschland brauche eine eingehegte Wirtschaft, in der das Staatswesen strategische Ziele vorgibt.

Foto: imago images/Arnulf Hettrich

Die Wahlprogramme von CDU/CSU und FDP setzen auf die „Entfesselung der Wirtschaft“. Echt jetzt? Haben uns die Covid-19-Pandemie und die Klimakrise, deren verheerende Folgen nun auch in Deutschland sichtbar geworden sind, nicht gerade eine ganz andere Lektion erteilt?

Haben wir nicht gelernt, dass wir die Materialschlachten des fossilen Industriezeitalters eines globalen, auf Gewinnmaximierung fixierten Wirtschaftssystems so nicht fortsetzen können und dass die Spezies Mensch verletzlich und auf andere angewiesen ist?

Entfesselt meint: maßlos, ungeregelt, überbordend. Dieses Konzept, verkoppelt mit einer völlig unangebrachten Staatsphobie, verleumdet aktuell digitale Meldeplattformen für Hinweise auf Steuerbetrug als Aufruf zur Denunziation und scheut nicht einmal den Vergleich mit Stasi-Methoden.

Diese Art zu wirtschaften und ein kaputtgesparter öffentlicher Dienst, der viele seiner Aufgaben, wie wir es erleben, nur unzureichend wahrnimmt, haben uns ja gerade die heutige Misere der Klimakrise beschert. Deshalb darf es kein neoliberales Mantra des „Weiter-so!“ geben.

Stattdessen brauchen wir eine eingehegte, regulierte Wirtschaft, in der ein von der breiten Bevölkerung mandatiertes Staatswesen strategische Ziele vorgibt und Anreize für innovative Privatinvestitionen zur Zielerreichung setzt, so, wie es zum Beispiel Mariana Mazzucato in ihrem aktuellen Buch „Mission: Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“ darlegt.

Fortschritt steht über Sorgearbeit

Schon der jüdische Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Polanyi (1886–1964) hatte in seinem epochalen Werk „Die große Transformation“, welches er 1944 unter dem Eindruck seiner Erfahrungen von Großer Depression und Zweitem Weltkrieg schrieb, die soziale und institutionelle Einbettung von Marktprozessen gefordert. „Es war das Dilemma, dass sich das Marktsystem sein eigenes Grab geschaufelt hat und zuletzt auch die sozialen Institutionen zerstörte, auf denen es basierte“, schrieb Polanyi.

Uta Meier-Gräwe war bis 2018 Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Beraterin der Bundesregierung.

Foto: Gleichstellungsbüro Freiburg

Außerdem wird es im Angesicht von Klima- und Carekrise erforderlich, die Kunstfigur des „Homo oeconomicus“ zu hinterfragen. Dieser verleugnet als autonomer, nutzenmaximierender Marktteilnehmer die menschliche Verletzlichkeit und Abhängigkeit und stellt Fortschritt weit über generative Sorgearbeit.

Denn es bleibt eine Tatsache, dass wissenschaftlich-technische Innovation die stetige Arbeit des Alltags, wie Pflegen, Kochen und Putzen, als eine Art weibliche „Unterwasser-Ökonomie“ zwingend voraussetzt. Darüber ist von der Mainstream-Ökonomie seit Jahrzehnten ein Mantel des Schweigens gelegt worden, um die Kosten für die Carearbeit ebenso zu externalisieren wie für die Naturvorkommen.

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Dieses Handlungsmuster ist bis heute in die DNA unseres Wirtschaftssystems eingeschrieben. Das muss sich aufgrund der Tatsache, dass uns die Erde unter unseren Füßen wegschmilzt, schnellstens ändern.

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