Geoeconomics: Der neue Mini-Lateralismus in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Nun haben es auch die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien getan: Sie haben einen Freundschaftsvertrag unterschrieben. Aus der „stillen Allianz“, wie der deutsche Politikwissenschaftler Karl Kaiser und sein britischer Kollege John Roper die deutsch-britischen Beziehungen Ende der 80er-Jahre des letzten Jahrtausends einmal nannten, ist eine formale geworden.
Denn in dem Vertrag ist das Bekenntnis zur gegenseitigen Verteidigung festgeschrieben. Es gibt die Zusage, dass sich beide Staaten „im Fall eines bewaffneten Angriffs auf die andere Vertragspartei“ verlassen können – „auch durch militärische Mittel“. Sicher, der deutsch-britische Freundschaftsvertrag hat nicht die Tiefe des deutsch-französischen Pendants, aber er komplementiert die bilateralen Beziehungen Deutschlands zu den wichtigsten europäischen Partnern und – dies ist bemerkenswert – vor allem im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich.
Und darüber hinaus fügt er sich ein in eine Entwicklung, die wir in Europa bereits seit längerer Zeit beobachten können. Der Minilateralisierung von Sicherheits- und Verteidigungspolitik als Ergänzung und mögliche zukünftige Alternative zu den etablierten sicherheitspolitischen Institutionen wie der Nato, aber auch der EU (deren Sicherheits- und Verteidigungspolitik noch immer in den Kinderschuhen steckt). Diese Entwicklung zeichnete sich seit langer Zeit ab, scheint aber in der jüngsten Vergangenheit an Fahrt aufzunehmen.
Denn die etablierten Institutionen sind geschwächt. Einige ihrer Mitglieder sind unsichere Kantonisten geworden. So ist es trotz aller Bemühungen der meisten europäischen Nato-Staaten bis auf Weiteres unklar, ob und, wenn ja, in welchem Maße die USA weiterhin europäische Macht bleiben werden und wollen, und mit Ungarn und der Slowakei gibt es sowohl in Nato und der EU zwei Staaten, deren führende politische Klasse sich Moskau näher fühlt als Brüssel. Darüber hinaus birgt auch die nähere Zukunft einige ungewisse Parameter. Niemand weiß, wer 2027 Emmanuel Macron nachfolgen wird, ob die Regierung von Donald Tusk in Polen das Jahr 2025 überleben wird, und dass Keir Starmer in Großbritannien von Tag zu Tag unpopulärer wird, ist ein offenes Geheimnis.
Die traditionellen Pfeiler wackeln
Mithin: Die traditionellen Pfeiler deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik wackeln, aber stehen noch. Und angesichts der Unsicherheit über die Entwicklung beider Institutionen bietet der Minilateralismus eine Alternative, die noch die traditionellen Institutionen nicht ersetzt, aber Gewehr bei Fuß steht, sollten einer oder beide dieser Pfeiler kollabieren.
Der Minilateralismus spannt ein dichtes Netz bilateraler oder trilateraler Sicherheitsverträge oder sicherheitspolitischer Kooperationsforen zwischen europäischen Staaten. Auch die Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Polen im Rahmen des Weimarer Dreiecks wäre hier zu nennen.
Somit kristallisiert sich rund um Deutschland, Frankreich, Großbritannien eine neue Form der europäischen Sicherheitskooperation, die eine Reaktion auf die veränderte sicherheitspolitische Lage in Europa und im transatlantischen Verhältnis ist. Im Norden Europas haben wir mit Nordefco (Nordic Defence Cooperation) eine enge verteidigungspolitische Zusammenarbeit der skandinavischen Staaten, die für die europäische Sicherheit noch dadurch an Bedeutung gewonnen hat, dass Schweden und Finnland seit 2024 Mitglieder der Nato sind.
Und der Besuch des Bundeskanzlers Merz im Mai 2025 bei den Staats- und Regierungschefs der nordischen Länder zeigt, dass die Bundesregierung darum bemüht ist, die Kooperation zwischen den militärisch großen europäischen Staaten mit den militärisch kleinen, aber sehr resilienten nordischen Staaten zu verbinden. Unterfüttert werden all diese sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperationen durch zahlreiche minilaterale militärische Kooperationen und auch einige gemeinsame Rüstungsprojekte unter verschiedenen Partnern.
Bei der Schaffung dieser neuen Formen der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation klaffen momentan noch zwei Lücken. Zum einen eine engere Kooperation mit Italien und zum anderen eine Kooperation mit Staaten außerhalb des europäischen Kontinents. Denn über kurz oder lang wird es europäischen Staaten nur unzureichend gelingen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, wenn das im Aufbau befindliche dichte sicherheits- und verteidigungspolitische Netzwerk unter europäischen Staaten nicht um nichteuropäische Staaten erweitert wird.
In einem neuen internationalen System, das durch die Konkurrenz zwischen zwei revisionistischen Staaten, den USA und China, gekennzeichnet sein wird, wird es Europa über kurz oder lang nicht gelingen, sich selbst zu verteidigen und sicherheitspolitisch eine mitgestaltende Rolle in der internationalen Politik zu spielen, wenn es sich nur auf sich selbst beschränkt.