Kolumne Geoeconomics: Viele Staaten stellen sich nicht gegen Russland – das verleiht ihnen Macht und Autonomie

Claudia Major ist eine deutsche Politikwissenschaftlerin und Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine sagte US-Präsident Biden, dass Russlands Präsident Putin ein Paria auf der internationalen Bühne werden würde. Aber ein Jahr später ist klar: Für die Mehrheit der Welt ist Putin kein Paria.
Die Weltgemeinschaft verurteilt nicht geeint den russischen Angriff, und viele Staaten sanktionieren Russland nicht. Im Gegenteil, Indien importiert ein Rekordvolumen an russischem Gas und Rüstungsgütern. Zwar kritisieren viele Staaten die Folgen des Krieges, etwa die gestiegenen Preise für Getreide und Energie. Aber sie kritisieren nicht den Grund dafür – den russischen Überfall.
Im März 2022 enthielten sich 35 Staaten, etwa Pakistan und Südafrika, in der UN-Generalversammlung zur Verurteilung des russischen Angriffs. Ein Jahr später gab es immerhin 32 Enthaltungen. Viele dieser Länder teilen nicht die westliche Kritik an Russland. Sie verweisen auf westlichen Regelbruch in der Vergangenheit, etwa im Irak, und kritisieren die Aufregung um die Ukraine als westliche Doppelmoral: Warum der Aufschrei hier, aber nicht bei anderen Konflikten?
Viele Länder, etwa Indien und Brasilien, haben sich nicht klar positioniert. Aus ihrer Sicht ist der russische Krieg gegen die Ukraine ein regionaler Konflikt, aber keine internationale Ordnungsfrage. Sie sind nicht unmittelbar betroffen und wollen sich nicht einmischen in etwas, was sie als Problem zwischen dem Westen und Russland sehen.
Die Motive sind vielfältig: sei es eine antiamerikanische Haltung im Mittleren Osten, Waffenexporte für Ägypten oder generelle Desillusion gegenüber dem Westen, der sie in der Pandemie hat hängen lassen.
Viele Staaten entscheiden sich nicht für eine Seite
Was sie eint: Alle haben etwas zu gewinnen. Die Energiepreise sind seit dem russischen Angriff und den westlichen Importembargos gefallen, denn Russland sucht Abnehmer, um seine auf Rohstoffen basierte Wirtschaft am Laufen zu halten. Westliche Unterstützung ist meist an Auflagen geknüpft, nicht aber die russischen und chinesischen Alternativen.

Längst nicht alle Staaten haben sich der Verurteilung des russischen Angriffskriegs angeschlossen.
Auf Englisch nennt man diese Art strategischer Flexibilität „sitting on the fence“, also auf einem Zaun zu sitzen und sich nicht für eine der Seiten zu entscheiden. Aus der Perspektive der Europäer und der USA ist das ein unbequemer Zustand. Sie erwarteten daher, dass diese Staaten sich für eine – ihre! – Seite entscheiden.
Doch aus Sicht der „Fence-Sitter“ ist die Lage gar nicht so eindeutig. Und „sitting on the fence“ ist keineswegs ungemütlich. Im Gegenteil, denn es verleiht (Ver-)Handlungsspielraum, Macht und Autonomie. Dieses Selbstbewusstsein und Bestehen auf Eigenständigkeit, gerade wenn frühere Kolonialmächte im Spiel sind, verbinden sich mit Kritik am Auftreten mancher westlicher Staaten und daran, dass sie die Regeln und Richtung der Weltpolitik definieren und ihre Probleme die der Welt wären.
Warum also sich auf eine Seite festlegen, wenn man auf dem Zaun sitzend das Beste von beiden haben kann? Mittlerweile hat das westliche Bündnis das verstanden: Auf einmal bemühen sich Europäer und die USA um diese Länder, reisen mit hochrangigen Delegationen vor Ort, hören zu, machen Angebote.
So berichtet das Handelsblatt über den Ukrainekrieg:
Eine definitive Positionierung der „Fence-Sitter“ ist absehbar kaum zu erwarten. Vielmehr müssen die westlichen Staaten umdenken und anerkennen, dass ihre Position nicht automatisch mehrheitsfähig ist und offenbar nicht attraktiv. Sie müssen gute Angebote machen, damit diese Staaten sich nicht endgültig für Russland (und China) entscheiden. Wie sähe eine konstruktive Rolle für die „Fence-Sitter“ in diesem Krieg und darüber hinaus in einer neuen Sicherheitsordnung aus?
Unentschlossene Staaten brauchen individuelle Angebote
Das Umdenken fängt dabei an, diese unterschiedlichen Länder nicht pauschal als „globalen Süden“ zu bezeichnen, sondern sie individuell wahrzunehmen, von El Salvador bis Vietnam. (Der Begriff „Westen“ ist übrigens genauso kritisch in seiner Pauschalisierung). Länderspezifische Kooperation sollte als gegenseitig nutzbringende Partnerschaft auf Augenhöhe angelegt sein.
Die Einladung an Argentinien, Indien, Indonesien, Senegal und Südafrika zum G7-Gipfel 2022 zeugt von einem neuen Ansatz für Partnerschaften. Themen wie gerechte Klimatransition und Infrastrukturprojekte können die Kooperation leiten. Schwieriger für Deutschland sind Rüstungsexporte, die aus Sicht vieler Länder jedoch attraktiv sind.






Und Glaubwürdigkeit ist entscheidend: Es irritiert, wenn sich die Europäer für die Ukraine starkmachen, aber gleichzeitig ihre Truppen aus Mali abziehen.
Ein Paria ist Putin nicht geworden. Aber viele neue Freunde hat er auch nicht – das ist zumindest ein kleiner Erfolg.
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