Kolumne „Kreative Zerstörung“: Wie wir durch KI unseren Verstand vergessen
Hunderte fabrikneue Teslas fahren wie durch Geisterhand gesteuert auf eine New Yorker Ausfallstraße, nur um dort mit vollem Tempo ineinanderzukrachen – ein perpetuierter, nicht enden wollender Auffahrunfall. Er wurde durch einen Coup verursacht, bei dem man nicht weiß, ob die Technik selbst das Ende der Welt programmiert hat oder ob es Menschen waren, die den Befehl gegeben haben, eine menschliche „Ordnung“ zu stürzen, die selbst wirkt wie ein perpetuierter Auffahrunfall der Zivilisationsgeschichte.
Diese Szene beschreibt den Wahnsinn einer Welt, die Rettung in der Technologie sucht, aber menschlich nicht mehr mithalten kann. Die Weiterentwicklung einer Werteordnung, um den sozialen Zusammenhang zumindest noch ansatzweise zu garantieren, scheitert in jedem Schritt.
„Lass die Welt hinter dir“ („Leave the world behind”) lautet der Titel des Netflix-Films, den Barack und Michelle Obama produziert haben. Es ist kein weihnachtlicher Film. Eher die Skizze einer Apokalypse und Auflösung, die so wenig rational zu fassen ist, wie es die Geschichte der christlichen Erlösung für viele Menschen ist.
Würde Jesus heute noch mal geboren, müsste der Erlöser uns wieder retten, so wie er es dem christlichen Glauben nach schon einmal getan hat. Es mag ketzerisch klingen, ist aber ganz ernst gemeint, wenn ich frage: Hat das mit der Erlösung eigentlich geklappt? Für die Antwort könnte man in theologische Tiefen eintauchen und viele Begründungen für eine positive Perspektive finden.
Ein kritischer Blick sagt: Wenn wir die Befreiung von unseren Sünden immer nur weiter auf die lange Bank schieben, dann ist das keine Erlösung, sondern eher „das Opium fürs Volk“, wie es Karl Marx einst beschrieben hat.
Das neue Opium fürs Volk ist die Künstliche Intelligenz. Sie wird als Heilsbringer gefeiert. Besonders dort, wo es uns Menschen auch im Jahr 2023 nicht gelungen ist, Besserung zu schaffen, die Probleme zu lösen, die wir selbst verursacht haben. Tatsächlich hat KI das Potenzial, unsere Welt zu verändern und zu verbessern, uns produktiver und kreativer zu machen.
Sie kann uns in unseren eingefahrenen Annahmen herausfordern, den Fortschritt beschleunigen, indem sie uns hilft, neue Materialien und Medikamente zu entwickeln, und womöglich einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Aber in vielen Bereichen liegt es weiter an uns, die Veränderung zu sein, die wir ständig fordern.
Das missverstandene „globale Dorf“
Soviel Fortschritt neue Technologien, der Computer, das Internet und die KI uns in den vergangenen Jahrzehnten auch gebracht haben, so wenig haben wir uns als Spezies weiterentwickelt. Nicht mal mehr die Hälfte der Menschheit lebt in einer Demokratie – der Krieg ist immer ungebetener Gast der Weltgeschichte geblieben, seit 2022 sitzt er auch wieder in Europa am Tisch. Der „Human Development Report“ der Vereinten Nationen konstatiert Rückschritte in der menschlichen Entwicklung, wie sie seit 1990 nicht vorgekommen sind.
Wir leben in einem „globalen Dorf“, aber verständigen können wir uns schlechter als zuvor? Der kanadische Medienphilosoph Marshall McLuhan hat den Begriff des „global village“ 1962 geprägt und ist damit über Jahrzehnte missverstanden worden.
McLuhan hatte nie die Idee einer vernetzten Welt, in der die Menschen friedlich zusammenleben könnten, ermöglicht durch Kommunikationstechnologien, die uns helfen, uns über alle Grenzen hinweg zu verbinden. Vielmehr sah er die Gefahr, dass die Konflikte wachsen und die Auseinandersetzungen wieder auf dem Niveau einiger Stammesgesellschaften ankommen würden.
Es braucht mehr menschliche Intelligenz
In einer Diskussion im kanadischen Fernsehen 1977 räumte McLuhan endgültig mit der utopischen Fehlinterpretation seines globalen Dorfs auf: „Eine der Hauptsportarten von Stammesangehörigen ist es, sich gegenseitig abzuschlachten. Das ist ein Vollzeitsport.“
Gefragt, ob er denn keine positiven Auswirkungen der Vernetzung sähe, antwortete er: „Je näher man sich kommt, desto mehr mag man sich? Dafür hat es noch nie einen Beweis gegeben. Wenn die Menschen näher zusammenrücken, werden sie immer wilder und ungeduldiger miteinander. Das globale Dorf ist ein Ort der beschwerlichen sozialen Verbindungen, und es steckt voller aggressiver Begegnungen.“
So endet der apokalyptische Netflix-Film dann auch damit, dass die Tochter der Familie es sich in einem privaten Luxus-Bunker gemütlich macht, um die letzte Folge der legendären TV-Serie „Friends“ zu gucken. Übrigens nicht durch einen Streaminganbieter, denn nichts dergleichen funktioniert mehr, sondern abgespielt von einer isolierten alten DVD. Eskapismus in einer Welt, die zerspringt wie eine überhitzte Weihnachtskugel.
Das allerdings kann ja wohl nicht das Rezept für die Zukunft sein. Mehr Respekt vor dem anderen, mehr Empathie, mehr menschliche Intelligenz und mehr ziviles Engagement, das wäre ein Anfang der Veränderung und Erlösung vor dem beschworenen Ende. Wenn KI das besser versteht als manch ein Mensch, dann muss uns das zu denken geben.
Gefragt, ob der Autopilot eines Teslas die Fahrer und Menschen um ihn herum schützen kann, antwortet Elon Musks Sprachmodell „Grok“: „Die Autopilot-Funktion kann zwar beim Lenken helfen, aber es ist wichtig, dass man jederzeit die Kontrolle über das Fahrzeug behält. Stellen Sie sich das so vor, als würden Sie mit einem Freund Händchen halten – Sie sind da, um sich gegenseitig zu unterstützen, aber Sie sind immer noch für Ihr eigenes Handeln verantwortlich.“ Kein Schelm, wer darin für das Jahr 2024 mehr sieht als eine technische Anleitung.