Kolumne „Out of the box“: Sei ganz du selbst – oder doch nicht?

Authentizität ist zur neuen Religion der Führungsetage geworden. Wann immer das Gespräch auf Topmanagement und Kommunikation kommt, gilt Echtheit als heiliger Gral des Erfolgs. „Authentisch“ klingt so rein und klar wie frisch sprudelndes Mineralwasser – unbedenklich für alle. Es trifft auf einen Zeitgeist, der sich an austauschbaren Gesichtern mit ihren Worthülsen sattgesehen hat.
In einer Welt der Fakes wächst die Sehnsucht nach dem Unverfälschten. Kein Wunder, dass Reality-Formate wie Pilze aus dem Fernseher schießen. „Seien Sie ganz Sie selbst“, gilt von der Unterhaltungs- bis Schwerindustrie. Doch auf der Topetage gelten andere Gesetze als im Dschungelcamp und der Bachelor fliegt eben keinen Airbus 380, sondern verteilt Rosen.
Authentizität mag im Privatfernsehen unterhaltsam sein, im beruflichen Kontext führt sie schnell zum Abschalten. Das „echte Ich“ ungefiltert ins Unternehmen zu tragen ist selten eine gute Idee und meist mit Kollateralschäden verbunden.
Stellen wir uns vor, Kapitän Bachelor macht, ganz er selbst, beim Start seine Durchsage: „Ehrlich, mir geht es nicht gut, meine Frau hat mich verlassen und die Kinder mitgenommen, ich habe die ganze Woche kein Auge zugemacht, aber wir schauen mal, wie’s läuft.“ Absolut authentisch, wirkungsvoll und panikfördernd.
Authentisch lenkt den Blick auf sich selbst und verliert die Konsequenzen aus dem Blick. Darauf deutet schon der griechische Wortstamm hin: authéntes – einer, der selbst die Tat vollbringt, der Mörder. So positiv klingt das gar nicht.
Authentizität in der konstruierten Welt der Wirtschaft führt unweigerlich zu Schizophrenie. Jede Führungskraft wird ja qua Jobbeschreibung auf eine Bühne gehoben. Sie übernimmt im Unternehmen eine Rolle, und die gilt es möglichst wirkungsvoll auszufüllen. Alle Augen sind auf sie gerichtet. Sie ist der Dirigent, nicht der Mitspieler, muss sichtbar sein und so auftreten, agieren und kommunizieren, dass alle anderen wissen, was zu tun ist.
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Die Fixierung auf das authentische Ich, ohne den Kontext, das Bühnenbild, führt nahezu immer zu Problemen. Donald Trump ist authentisch wie eine Abrissbirne. Doch er hat seine Rolle falsch verstanden. Er gibt den großen Zampano statt den Präsidenten. So geht Führung à la Noah: nach mir die Sintflut.
Die Rolle anzunehmen und auszufüllen, bedeutet die Verantwortung für die eigene Wirkung zu begreifen und zu übernehmen. Performance fängt dabei schon mit der eigenen Darstellung an. In aller Wahrhaftigkeit. Die Übereinstimmung von Denken, Sagen und dem täglichen Tun, erzeugt die Kraft.
Die Persönlichkeit muss erkennbar bleiben. Das Ich wird kuratiert, bleibt jedoch stimmig und wahrhaftig. Manager sind keine Darsteller: auswendig gelernte Texte, künstliches Lachen und Verkleidungen, aktuell werden Lederjacken gern getragen, werden in Sekundenschnelle erkannt. Behalten Sie Ihre Persönlichkeit, aber nutzen Sie diese anwendergerecht. Wahrhaftigkeit ist eben nicht das rohe Ich, sondern das erlebbare Bild.
Nicht der Ausdruck, sondern der Eindruck entscheidet. Es ist gut, Gefühle zu haben, aber noch wichtiger ist, Haltung zu zeigen. Worten müssen Taten folgen. Daraus wird die Wahrhaftigkeit geschmiedet. Die Wirkung liegt nicht darin, echt wütend, echt unsicher, echt ungeduldig zu sein, sondern glaubhaft das zu verkörpern, was gebraucht wird.
Menschen wachsen mit ihren Aufgaben. Wir erinnern uns: Turnschuhträger Joschka Fischer wurde vom Sponti zum Staatsmann, Joachim Gauck vom Pastor zum Bundespräsidenten. Und Robert Prevost aus Chicago wird vor den Augen der Welt zu Papst Leo XIV. Dabei ist die Rolle als Vertreter Gottes auf Erden eine nahezu übermenschliche Aufgabe. Wie authentisch soll der Papst sein?


Wer das „Authentische“ zum Handlungsprinzip erklärt, gerät in die Echtheitsfalle. Es gibt für jede Situation nur eine, die authentische Reaktion, der Handlungs- und Entscheidungsspielraum wird eng.
Dabei ist es die Lücke zwischen Reiz und Reaktion, die den Menschen vom reflexhaften Wesen unterscheidet. Er kann sich und seine Reaktion den Umständen anpassen. Oder auch einmal gar nicht reagieren. Gerade wenn wir aufgewühlt sind, erst mal eine Nacht drüber zu schlafen, ist vermutlich der beste Ratschlag der Managementgeschichte. Den Reflexen nicht nachzugeben, ist zwar nicht authentisch, aber meist besser für alle.
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