Analyse Von der Leyens Seidenstraße: Wie die EU im Systemkonflikt mit China bestehen will

Spät, aber noch nicht zu spät ist Brüssel aufgewacht.
Damit kein Missverständnis aufkommt: Es handelt sich nicht um einen neuen Namen für den Berliner Flughafen, auch nicht um ein AOL-Modem aus den 90er-Jahren. Nein, das, was EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union als „Global Gateway“ angekündigt hat, ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste außenpolitische Initiative der EU.
Europa will künftig eine Infrastrukturpolitik betreiben, die sich nach strategischen Interessen richtet. Das ist die Antwort auf Chinas Seidenstraße. Seit Jahren warten Mitgliedstaaten und Wirtschaftsverbände darauf.
Spät, aber noch nicht zu spät ist Brüssel aufgewacht. Eine „geopolitische Kommission“ hatte von der Leyen bei ihrem Amtsantritt versprochen. Dann kam die Pandemie, die EU-Staaten schotteten sich ab, Europa blickte in den Abgrund. Mit Ach und Krach konnte die EU das Schlimmste verhindern, in nervenzehrenden Verhandlungen wurde der gemeinsame Wiederaufbaufonds erschaffen – der mit 750 Milliarden Euro hinterlegte Beweis dafür, dass europäische Solidarität mehr als ein Zierwort für Sonntagsreden ist.
Auch bei der Impfstoffbeschaffung hielten die Europäer zusammen. Die Fehler und Verzögerungen, die der Kommission zum Jahreswechsel angekreidet wurden, geraten langsam in Vergessenheit. Die Impfquote ist in Europa heute höher als in Großbritannien und den USA.
Zeit also, einen Blick über den europäischen Tellerrand zu wagen. Die Welt hat die Schwelle zu einer neuen Systemrivalität überschritten. Demokratien geraten unter Druck, Autokraten wähnen sich im Aufwind. Nicht Europas Problem? So zu denken wäre ein fataler Fehler.
Was durch den Aufstieg autoritärer Kräfte wie der Volksrepublik China auf dem Spiel steht, ist nicht allein die globale Vormachtstellung der USA. Sondern auch das Wertefundament von Freiheit und Marktwirtschaft, auf dem die EU errichtet wurde.
Von der Leyen über Impfungen weltweit: „Ausmaß der Ungerechtigkeit ist offensichtlich“
Womit der Bogen zur Seidenstraße gespannt ist. Mit gezielten Wirtschaftshilfen verschafft sich das chinesische Regime Einfluss. In Asien, Lateinamerika, Afrika und längst auch in Europa finanziert Peking Straßen, Häfen, Zugtrassen, Datenkabel und Kraftwerke – Prestigeprojekte korrupter Machthaber genauso wie dringend benötigte Handelsanbindungen.
Bei den Ausschreibungen für Seidenstraßenprojekte kommen vor allem chinesische Unternehmen zum Zug, europäische Wettbewerber gehen leer aus. Transparenz spielt ebenso wenig eine Rolle wie Menschenrechte und Umweltstandards, auch die Wirtschaftlichkeit ist zweitrangig. Hauptsache, es entstehen Abhängigkeiten, die sich strategisch nutzen lassen.
Etwa wenn es gilt, ein Land wie Ungarn davon zu überzeugen, eine gemeinsame EU-Erklärung gegen Chinas Vorgehen in Hongkong zu blockieren, wie zuletzt im Juni geschehen. Das Beispiel zeigt: Chinas Orbit wirkt längst in die EU hinein.
Es war das geopolitische Meisterstück der Chinesen, erkannt zu haben, dass es einen gewaltigen Bedarf an Infrastruktur gibt, der durch Privatinvestoren und multilaterale Entwicklungsorganisationen wie die Weltbank nicht gedeckt wird. In diese Infrastrukturlücke, die auf 1500 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt wird, stößt das Regime vor.
Infrastrukturpolitik ist ein geostrategisches Powerplay geworden
Der Lohn ist keine primär finanzielle, sondern eine strategische Rendite: die Verbreitung autoritärer Werte, die Ausweitung der eigenen Machtsphäre. Wandel durch Handel mit chinesischen Merkmalen, so könnte man diese Politik bezeichnen.
Das Ergebnis sind „sinozentrische Strukturen, die nicht in unserem Interesse liegen“, warnt das Bundesaußenministerium intern. Längst hat sich in Europas Hauptstädten herumgesprochen, dass Infrastrukturpolitik ein geostrategisches Powerplay geworden ist.
Doch die EU-Kommission war bis zuletzt mit sich selbst beschäftigt, es tobte ein interner Machtkampf. Die Beamten, die in Brüssel über die Verteilung von Entwicklungshilfe entscheiden, wollen weitermachen wie bisher, sich von der Führungsebene nicht reinreden lassen.
Den Beharrungskräften des Verwaltungsapparats hat von der Leyen nun eine ambitionierte geoökonomische Agenda entgegengesetzt – endlich. Europa ist international der größte Geber von Entwicklungshilfe, der europäische Binnenmarkt zählt zu den attraktivsten Wirtschaftsräumen der Welt. Die Frage ist nur, was die EU politisch daraus macht. Sie stellt sich gerade jetzt, nach dem Debakel in Afghanistan, da Europa nach neuen Wegen suchen muss, seine Interessen durchzusetzen.
„Global Gateway“ wird maßgeblich darüber entscheiden, ob von der Leyen ihr Versprechen einer „geopolitischen Kommission“ einlösen kann. Die EU hat alle Mittel, die sie braucht, um Infrastrukturpartnerschaften zu knüpfen und Chinas Einfluss zurückzudrängen. Sie muss nur bereit sein, die Mittel auch zu nutzen.
Mehr: Rede zur Lage der EU: Das sind die wichtigsten Ankündigungen von Ursula von der Leyen
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