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ArbeitsmarktWie die neue Regierung den Arbeitskräftemangel verschärft

Die Sorge um den Arbeitsmarkt wächst: Die Koalition sendet widersprüchliche Signale, verdrängt das Demografieproblem und unterschätzt das Entlastungspotenzial der Zuwanderer.Bert Rürup, Axel Schrinner 21.07.2025 - 11:20 Uhr
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Geschlossene Tür: Immer mehr staatliche und private Einrichtungen müssen ihre Angebote einschränken oder aufgeben. Foto: picture alliance / Zoonar

Auch im nunmehr sechsten Jahr der wirtschaftlichen Stagnation fehlen in Deutschland Arbeitskräfte. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) registrierte im ersten Quartal 2025 fast 1,2 Millionen offene Stellen, von denen nahezu 80 Prozent sofort zu besetzen waren. Bemerkenswert ist, dass keineswegs nur Spezialisten und Fachkräfte gesucht werden. Immerhin 28 Prozent der offenen Stellen waren für Ungelernte geeignet. Solch einen hohen Anteil an den offenen Stellen für Geringqualifizierte gab es seit Beginn der IAB-Datenreihe noch nie.

Gleichzeitig lebten Ende des vergangenen Jahres mit 83,6 Millionen so viele Menschen wie noch nie in Deutschland, und die Zahl der Erwerbstätigen lag mit 45,8 Millionen Personen nahe dem Allzeithoch.

Trotz dieser Entwicklungen steigt die Arbeitslosigkeit langsam, aber unaufhaltsam. Im Juni erhöhte sich die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit um 11.000 Personen auf nunmehr 2,972 Millionen. Dies war der 30. Anstieg in Folge. Gemessen an den Tiefstständen vom Frühjahr 2019 sind nunmehr etwa 750.000 Personen mehr arbeitslos. Und von den fast vier Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfängern gelten 44 Prozent als arbeitslos und somit arbeitsfähig.

Diese Befunde muten widersprüchlich an. Fakt ist jedoch, dass die einheimische Bevölkerung seit Jahrzehnten schrumpft und die deutsche Wirtschaft seit geraumer Zeit auf eine Zuwanderung von Arbeitskräften angewiesen ist. Fakt ist zudem, dass sich trotz steigender Erwerbstätigenzahlen das Arbeitsvolumen kaum ändert.

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Der Grund: Mit wachsender Teilzeitbeschäftigung insbesondere von erwerbstätigen Frauen sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit der beschäftigten Bevölkerung. Zudem ist das Steuer-Transfersystem schlecht verzahnt. Für viele Bürgergeld-Empfänger lohnt sich Arbeit nicht oder kaum. Ein Minijob mit 100 Euro Monatslohn ist für viele Bürgergeld-Empfänger eine höchst attraktive Beschäftigungsform, da bei höheren Einkommen von zusätzlichem Verdienst nur wenig übrig bleibt.

Wohnungsbau: Der Arbeitskräftemangel belastet auch die Bauwirtschaft. Foto: IMAGO/

Ebenfalls sind Minijobs für viele Ehefrauen attraktiv. Das Zusammenwirken von kostenloser Mitversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung des Partners, Ehegattensplitting und die Abgabenfreiheit von Minijobs machen die Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung oft unattraktiv, da vom Bruttolohn netto nur wenig übrig bleibt. Kurzum: Der Staat setzt mit sozialpolitisch motivierten Leistungen Signale, die arbeitsmarktpolitisch kontraproduktiv wirken.

Gleichermaßen mangelt es in der Migrationspolitik an einer konsistenten Strategie. So bereiste in der vergangenen Legislaturperiode der damalige Sozialminister Hubert Heil (SPD) mehrere Schwellenländer und warb um Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt – mit mäßigem Erfolg.

Stagnation droht also zum Dauerzustand zu werden.

Im Koalitionsvertrag der amtierenden Regierung heißt es zwar, „wir wollen ein einwanderungsfreundliches Land bleiben und eine qualifizierte Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt attraktiv machen“. Doch diesem Bekenntnis folgen mehrere Seiten mit Maßnahmen, mit denen die Zuwanderung begrenzt werden soll.

Mit keinem Wort wird erwähnt, dass die deutsche Volkswirtschaft in den kommenden etwa 15 Jahren jedes Jahr um die 400.000 zusätzliche ausländische Arbeitskräfte benötigt, um die Lücken zu schließen, die die in Ruhestand gehenden Babyboomer auf dem Arbeitsmarkt hinterlassen.

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Im Kapitel „Arbeit und Soziales“ des Koalitionsvertrags heißt es zwar, „die Sicherung der Fachkräftebasis ist ein entscheidender Faktor für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes“. Eine höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen sei dabei ein entscheidender Faktor. „Ergänzend“ brauche Deutschland qualifizierte Einwanderung. Die Frage, warum die von vielen entwickelten Industrieländern gesuchten Fachkräfte sich gerade auf den Weg nach Deutschland machen sollten, wird freilich nicht gestellt.

Die deutsche Sprache ist im Ausland wenig verbreitet und gilt als schwer zu erlernen. Berichte über eine wachsende Fremdenfeindlichkeit in Teilen Deutschlands machen in den sozialen Medien die Runde, und die Chancen für Zugewanderte, eine angemessene und bezahlbare Wohnung in einer Metropolregion zu finden, sind nahezu gleich null.

Hinzu kommen Probleme bei der Anerkennung in der Heimat erworbener Qualifikationen. Zudem ist das deutsche Schulsystem offenkundig überfordert mit der Anzahl der hier lebenden Kinder von Migranten.

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Daher verwundert es nicht, dass ein Viertel der nach Deutschland eingewanderten Personen erwägt, das Land wieder zu verlassen – immerhin rund 2,6 Millionen. Politische Unzufriedenheit, persönliche Gründe, steuerliche Belastungen und Bürokratie nennen die Befragten als Hauptursachen, wie eine IAB-Umfrage zeigt. Geflüchtete nennen zusätzlich Diskriminierungserfahrungen als wichtigen Grund, Deutschland zu verlassen.

Für diejenigen, die eine Abwanderung planen, sind berufliche Motive und die wirtschaftliche Lage im Zielland von Bedeutung. Insbesondere die besser gebildeten, wirtschaftlich erfolgreicheren sowie sprachlich integrierten Zugewanderten denken häufig über eine Ausreise nach, stellt das IAB fest – also genau jene Gruppe, die Deutschland dringend benötigt.

Ökonomisch betrachtet sind Anwerbung und Aufnahme von Zuwanderern eine Investition, die mit Anfangskosten und ungewissen künftigen gesellschaftlichen Erträgen verbunden ist. Aus der engen ökonomischen Perspektive ist jeder Zugewanderte ein Gewinn, der Staat und Gesellschaft weniger Kosten verursacht, als er Erträge in Form von Wertschöpfung erwirtschaftet.

Grundschule: Das deutsche Bildungssystem wird den Anforderungen einer Zuwanderungsgesellschaft nicht gerecht. Foto: The Image Bank Unreleased/Getty

Angesichts der markanten Bevölkerungsalterung können Zuwanderer daher ein Gewinn für Deutschland sein – wenn das Land darauf vorbereitet wäre. Tatsächlich fehlen aber Wohnraum, Integrationsmöglichkeiten und nicht zuletzt Kita-, Schul-, Praktikums- und Ausbildungsplätze.

Deutschlands Wirtschaft und Gesellschaft stehen etwa 15 demografisch sehr herausfordernde Jahre mit einer doppelten Bevölkerungsalterung bevor. Die OECD geht in ihrem jüngsten Beschäftigungsausblick für Deutschland bis 2060 von einem Rückgang der Bevölkerung im traditionellen Erwerbsalter um 22 Prozent aus – sofern nicht massiv gegengesteuert wird. Die Anzahl der Personen im Rentenalter je Person im Erwerbsalter wird von derzeit 0,39 auf 0,6 steigen.

Sofern das Produktivitätswachstum auf dem Niveau der zurückliegenden Jahre verharrt, bedeutet dies, dass die Wirtschaftsleistung pro Kopf bis 2060 lediglich um 0,27 Prozent pro Jahr wachsen wird – zum Vergleich: Zwischen 2006 und 2019 betrug der Zuwachs 1,4 Prozent pro Jahr. Wirtschaftliche Stagnation droht also zum Dauerzustand zu werden.

Ein Patentrezept gibt es nicht. Allerdings wäre die Regierung gut beraten, keine widersprüchlichen Signale zu senden – derzeit wird einerseits die Frühverrentung begünstigt, andererseits werden Vergünstigungen für jene Personen im Rentenalter ausgelobt, die länger arbeiten. Wenig hilfreich scheinen zudem pauschale Verunglimpfungen wie zuletzt auch von Kanzler Friedrich Merz, die Deutschen arbeiteten zu wenig. Wer die Anreize, die die Politik mit dem Steuer-Transfersystem nun einmal setzt, für seine Zwecke nutzt, ist nicht faul – sondern verhält sich individuell rational.

Was fehlt, ist Stringenz in der Politik!

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Erstpublikation: 18.07.2025, 10:59 Uhr.

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