Wachstum: Deutschland braucht kein Konjunkturprogramm


Die deutsche Wirtschaft dürfte im kommenden Jahr um etwa ein Prozent wachsen, und es gibt sogar Ökonomen, die ein reales Wirtschaftswachstum von mehr als 1,5 Prozent voraussagen. Daraus ließe sich folgern, dass Union und SPD einem zentralen Ziel ihres Koalitionsvertrags einen großen Schritt nähergekommen sind. „Unser Ziel ist es, das Potenzialwachstum wieder auf deutlich über ein Prozent zu erhöhen“, heißt es dort.
Doch das wäre ein Trugschluss. Zwischen dem tatsächlichen Wachstum, das sich über die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aufzeigen lässt, und dem Potenzialwachstum einer Volkswirtschaft, welches angibt, wie sich die Wirtschaft langfristig entwickelt, besteht ein großer Unterschied.
„Mit den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und unseren Stärken (...) werden wir den Standort Deutschland nach vorne bringen, durch strukturelle Reformen Wachstumskräfte freisetzen und den Wohlstand für alle mehren“, heißt es weiter im Koalitionsvertrag. Aber anders als im Koalitionsvertrag vereinbart, setzt die Große Koalition auf eine keynesianische Nachfragepolitik.
Wirtschaftsliberaler Kanzler Merz – nur eine Inszenierung
So haben Kanzler Friedrich Merz (CDU), der sich im Wahlkampf als wirtschaftsliberal inszeniert hatte, und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) ein gleichermaßen gigantisches wie konventionelles Konjunkturprogramm geschnürt: Fast 850 Milliarden Euro neue Schulden will der Bund bis Ende 2029 aufnehmen.
Zusammen mit den zusätzlichen Schulden der Bundesländer dürfte die Staatsverschuldung binnen weniger Jahre um etwa 50 Prozent auf annähernd 3,5 Billionen Euro anwachsen. Damit wird die Schuldenquote von derzeit etwa 60 auf nahezu 90 Prozent in Relation zur wirtschaftlichen Gesamtleistung steigen.
Die so erzeugte zusätzliche staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern und Bauleistungen wird zweifellos zusätzliche Einkommen generieren, die die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beflügeln. Die Regierung blendet allerdings die bekannten angebotsseitigen Wachstumshemmnisse aus.
Während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren stellte der britische Ökonom John Maynard Keynes das Konzept der damals dominierenden neoklassischen Theorie infrage, wonach freie Märkte und flexible Löhne zumindest mittelfristig automatisch zu Vollbeschäftigung führen. Nach Keynes bestimmt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage maßgeblich die Wirtschaftsleistung einer Volkswirtschaft.
Arbeit und Kapital fehlen in Deutschland, nicht die Nachfrage
Eine zu schwache Nachfrage könne daher anhaltend hohe Arbeitslosigkeit verursachen. Deshalb sollte der Staat in Rezessionen Schulden aufnehmen und die zur Vollbeschäftigung fehlende private Nachfrage ersetzen. In Zeiten der Hochkonjunktur sollte die öffentliche Hand ihre Nachfrage drosseln und Staatsschulden tilgen.
Dieses Konzept stieß in den 1970er-Jahren an seine Grenzen, als infolge der Ölkrisen nicht fehlende Nachfrage, sondern Angebotsschocks zu gesamtwirtschaftlichen Problemen führten. Staatsverschuldung und Preise stiegen, ohne dass die Konjunktur wieder in Schwung kam – die Stagflation war geboren.
Auch heute krankt die deutsche Volkswirtschaft nicht an fehlender Nachfrage. Was seit Jahren fehlt, ist ein größeres Angebot an Arbeit und Kapital. So blieb das geleistete Arbeitsvolumen unter geringen Schwankungen nahezu konstant. Höhere Erwerbstätigenzahlen einerseits und der Trend zur Teilzeitbeschäftigung andererseits hoben sich weitgehend auf.
Als Folge der Alterung der Gesellschaft dürfte ab diesem Jahr die Erwerbstätigkeit sinken – erst langsam, dann rascher. Nach amtlichen Berechnungen wären in den kommenden Jahren etwa 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte pro Jahr erforderlich, um die Lücken zu schließen, die die in Ruhestand gehenden Babyboomer-Jahrgänge hinterlassen.
Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Investitionsschwäche entstehen überdies kaum neue Produktionskapazitäten. Der Ersatz eines intakten Atomkraftwerks durch einen neuen Windpark schafft zwar zusätzliches Einkommen, etwa bei den Windradherstellern, doch die Produktionsmöglichkeiten werden durch den Wechsel in der Art der Energieerzeugung nicht erweitert.
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Die Folge: Das Produktionspotenzial dürfte bis zum Ende des Jahrzehnts lediglich um 0,3 oder 0,4 Prozent pro Jahr zulegen. Damit liegt das Trendwachstum der Volkswirtschaft nahezu einen Prozentpunkt unter dem Mittelwert der zurückliegenden zwei Dekaden. Daran ändert ein konjunktureller Ausreißer nach oben im Jahr 2026 nichts.
Die geplanten befristeten Abschreibungsvergünstigungen sorgen vor allem für Vorzieheffekte, Subventionen für E-Autos lenken Nachfrage um, und höhere Renten stärken den privaten Konsum. Die geplanten Infrastruktursanierungen und Rüstungsausgaben dürften angesichts ausgelasteter Kapazitäten in diesen Branchen zu deutlich steigenden Preisen führen.
Wegen oft sehr langer Planungsverfahren wird es allerdings schwierig werden, spezifische Effekte auf Konjunktur und Produktionspotenzial nachzuweisen. Hinzu kommt, dass viele Rüstungsgüter importiert werden und das hiesige Wirtschaftswachstum kaum tangieren.
Reformen kosten Geld – und sind vonnöten
Daher ist nicht auszuschließen, dass künftige Wirtschaftshistoriker den Merz-Klingbeil-„Wachstumsbooster“ ähnlich bewerten müssen wie den „Doppelwumms“ von Olaf Scholz: große Worte, überschaubare gesamtwirtschaftliche Wirkungen und ein markanter Anstieg der Staatsverschuldung.
Modernisierung und Umbau der Volkswirtschaft sind ohne Zweifel ein Gebot der Stunde. Nicht minder wichtig wäre es jedoch, diese staatliche Investitionsoffensive durch eine wachstumsorientierte Reform der Unternehmensbesteuerung und zeitgemäße Abschreibungsregeln zu flankieren. Schließlich gilt es, das geschwundene Vertrauen privater Investoren in den Standort Deutschland zurückzugewinnen. Zahlreiche Konzerne versuchen gerade, mit hohen Abfindungen nicht zuletzt auch qualifiziertes Personal abzubauen, also hierzulande zu schrumpfen.
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Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsangebot kann durch qualifizierte Zuwanderung und/oder durch höhere Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials gesteigert werden. Allerdings ist Deutschlands Gesellschaft nach Lage der Dinge nicht bereit, Jahr für Jahr Hunderttausende zusätzliche ausländische Fachkräfte und deren Angehörigen aufzunehmen. Daher muss es darum gehen, das vorhandene Potenzial besser auszuschöpfen.
Eine Reform des Ehegattensplittings und der kostenfreien Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern in der gesetzlichen Krankenversicherung würde die Kosten des Nichtarbeitens erhöhen. Eine Begrenzung des Minijob-Privilegs auf Studenten und Rentner würde die Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung stärken. Und ein gut verzahntes Steuer-Transfer-System könnte den Weg aus dem Bürgergeld in den Arbeitsmarkt erleichtern.






Solche Reformen kosten zunächst Geld. Doch scheint Geld derzeit kaum eine Rolle für die Regierung zu spielen. Rein rechnerisch ließe sich mit den bis 2029 geplanten zusätzlichen Schulden die Lohnsteuer mehr als halbieren, die Wirtschaft für vier Jahre von Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer befreien oder viermal (!) den von der KfW errechneten Investitionsstau bei den Gemeinden beseitigen.
Unter der Ägide des wirtschaftsliberalen Bundeskanzlers Merz wird die Staatsquote Deutschlands nachhaltig über 50 Prozent steigen. Ein wahrhaftiger Paradigmenwechsel – mit ungewissem Ausgang.
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