Europäische Union: Stabilität ohne Pakt

„Drei Prozent sind drei Prozent“ – mit diesen Worten warb Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) 1996 für den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Damit wollte er signalisieren, dass sich Deutschland kurz vor dem Start der Europäischen Währungsunion auf keine Kompromisse bei der Einhaltung der Maastricht-Kriterien einlassen werde.
Diese Kriterien sahen vor, dass das Haushaltsdefizit eines Euro-Kandidaten nicht höher sein durfte als drei Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt und die Staatsschuldenquote 60 Prozent nicht übersteigen sollte. „Der Stabilitätspakt ist ehrgeizig. Das muss er auch sein, um allen Teilnehmern an der Währungsunion den gleichen Schutz gegen Abweichungen vom Stabilitätspfad zu bieten“, sagte Waigel damals. Eine fundierte ökonomische Begründung für diese Schwellenwerte gab es allerdings nie.
Heute, fast drei Jahrzehnte, vier Reformen und rund 130 Verstöße später, dürfte der konservative deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz zum Totengräber dieser Verschuldungsgrenzen werden. Zunächst hebelte Merz die zuvor von ihm – einer Monstranz gleich – hochgehaltene nationale Schuldenbremse aus. Und mit der anschließend von Bundesfinanzminister Lars Klingbeil (SPD) vorgelegten und von Merz abgesegneten Finanzplanung zählt Deutschland definitiv nicht mehr zum „Klub der Sparsamen“ in Europa.
Die Neuverschuldungspläne der Bundesregierung haben zur Folge, dass Deutschland spätestens 2026 die Drei-Prozent-Grenze verletzen wird und die Haushaltsdefizite sich in einer Größenordnung von mehr als vier Prozent bewegen werden – und zwar auf Dauer. Die Schuldenstandquote wird von heute gut 60 Prozent zügig auf etwa 80 Prozent steigen. Sollte das Versprechen der Nato-Staaten eingelöst und sollten die Rüstungsausgaben verdoppelt werden, wird ohne ein rigides finanzpolitisches Gegensteuern diese Quote in der kommenden Dekade weiter steigen.
Zweifellos ist die deutsche Verkehrsinfrastruktur in weiten Teilen marode und die Bundeswehr nicht abwehrbereit. Daher ist es richtig, dass die amtierende Regierung ihr Hauptaugenmerk auf diese Bereiche richtet. Richtig ist allerdings auch, dass der unbefriedigende Zustand von Infrastruktur und Armee das Ergebnis bewusster Politikentscheidungen der Vergangenheit ist. Vorhandene Haushaltsmittel wurden anderweitig verwendet – nicht zuletzt für Sozialleistungen und den Ausbau der Bürokratie.
Risiko einer Zinswende steigt
Die Modernisierung und Instandhaltung der staatlichen Infrastruktur sowie die Landesverteidigung sind genuine Aufgaben des Staates. Im Interesse einer nachhaltigen Finanzpolitik sollten diese Aufgaben vorrangig aus laufenden Einnahmen, sprich Steuern, finanziert werden. Möglich ist dies: Erinnert sei daran, dass Deutschland in den 1970er-Jahren regelmäßig um die drei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr ausgab und gleichzeitig die Infrastruktur massiv ausbaute.
Darüber hinaus ist unklar, welches Material eine moderne Bundeswehr benötigt. Für 100 Millionen Euro bekommt man einen Kampfjet, bis zu zehn Panzer oder gut 4000 Kampfdrohnen. Eine Aufstellung, wofür die 100 Milliarden Euro aus dem „Zeitenwende-Sondervermögen“ verwendet werden, bleibt das Verteidigungsministerium bislang schuldig. Für den Militärhistoriker Sönke Neitzel ist die Bundeswehr „nach wie vor die vollendete Karikatur der deutschen Bürokratie“. Er prophezeit: „Wir werden wahrscheinlich weiterwursteln und enorm viel Geld verbrennen“ – man kann nur hoffen, dass der anerkannte Experte dieses Mal irrt.
Da nicht nur Deutschland, sondern alle Nato-Staaten aufrüsten wollen, dürfte dies kaum koordiniert geschehen und damit teuer werden. Denn die globale Rüstungsindustrie ist schon jetzt stark ausgelastet. Eine markant steigende Nachfrage wird die Preise für Waffen und damit die Gewinne der meist ausländischen Rüstungskonzerne in die Höhe treiben – nach Schätzungen von Warburg Research stammen „etwa 80 Prozent der europäischen Verteidigungsbeschaffung nicht aus der EU“.
Ungeachtet dessen wird die kreditfinanzierte staatliche Nachfrage auch zu wachsenden Einkommen im Inland führen und damit die Binnennachfrage stimulieren. Da nicht auszuschließen ist, dass dies zu einem Anziehen der Inflation führt, besteht das Risiko einer Zinswende seitens der EZB. Steigende Zinsen würden die private Investitionstätigkeit dämpfen und die fiskalischen Spielräume der Euro-Staaten einschränken. Das im Koalitionsvertrag der Bundesregierung genannte Ziel, Deutschlands Volkswirtschaft nicht zuletzt mit der Aufrüstung und Infrastruktursanierung auf einen höheren Wachstumspfad zu bringen, geriete dann in weite Ferne.
Nicht zu bestreiten ist, dass CDU/CSU ihr vollmundiges Wahlkampfversprechen solider Staatsfinanzen dem Erfolg der Koalitionshandlungen geopfert haben. Damit diskreditierte die Union den mit großer Mühe reformierten Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt. Der Mythos von Deutschland als Zuchtmeister der Währungsunion, der von Theo Waigel in die Welt gesetzt und von seinem Nach-Nachfolger Wolfgang Schäuble geprägt wurde, ist verpufft. Vom politischen Versprechen der Union von fiskalischer Solidität im Euro-Raum ist kaum noch etwas übrig.
EU muss politisch handlungsfähig sein
Tatsächlich hat das langjährige Feilen und Schleifen an diesem Pakt dem Euro nicht geschadet. Seit seiner Einführung belief sich die Inflation im Währungsraum im Mittel auf rund zwei Prozent – wenn auch unter großen Schwankungen. Nicht verhindern konnte der Stabilitätspakt, dass die Schuldenquote im gesamten Euro-Raum binnen 25 Jahren von 72 auf 94 Prozent stieg.
Ebenfalls verhinderte der Pakt nicht, dass es zu Beginn der 2010er-Jahre zu Attacken der Finanzmärkte auf die Gemeinschaftswährung kam. Diese Angriffe konnte die EZB – unter Dehnung ihres Mandats – abwehren und emanzipierte sich damit von ihrem Vorbild, der Deutschen Bundesbank. Die den Deutschen versprochene dogmatische „Europäische Bundesbank“ verwandelte sich unter dem damaligen Präsidenten Mario Draghi in eine moderne „Europäische Zentralbank“ – und das war gut so.
Was nun fehlt, ist eine politische Union mit gemeinsamen Werten und Zielen sowie handlungsfähigen europäischen Institutionen. Nie waren Überlegungen für gemeinsame Verteidigungsanstrengungen bis hin zu einer gemeinsamen europäischen Armee oder einem Atomschirm so wichtig und aktuell wie heute.
Zudem zeigt sich, dass es richtig war und ist, Fragen der Handelspolitik an die EU zu übertragen. Allerdings fehlt der EU-Kommission das Mandat, Handelsabkommen notfalls auch gegen Partikularinteressen einzelner EU-Staaten zu schließen – was in der Vergangenheit oft zu endlosen Verhandlungen führte.
Das disruptive Verhalten von US-Präsident Donald Trump zwingt die EU aber zu schnellen Entscheidungen. Jene EU-Staaten, die dazu bereit sind, sollten diese Konfrontation nutzen, um enger zusammenzurücken und nachhaltige Schritte in Richtung einer echten politischen Union zu unternehmen. Die Zeiten gegenseitiger Belehrungen etwa über die richtige Finanzpolitik sind vorbei; die EU hat wichtigere Probleme als einen Pakt, der zwar Stabilität und Wachstum verspricht, aber keines von beidem leistet.
Trump, Xi und Putin geben heute den weltpolitischen Takt vor. Die EU hat jetzt die Chance, sich als politisch handlungsfähig zu erweisen und im Kreis der Großmächte ernst genommen zu werden.
Es wäre fatal, diese Chance nicht zu ergreifen.
