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  4. Bert Rürup: Das Gesundheitssystem braucht eine Reform

Kommentar – der ChefökonomGesundheit ist den Deutschen lieb – und sehr teuer

Die nächste Bundesregierung erbt eine Großbaustelle: das kranke Gesundheitssystem. Unter dem Deckmantel sprudelnder Einnahmen konnten die Defizite wuchern, analysiert Bert Rürup. 01.10.2021 - 10:05 Uhr Artikel anhören

In Deutschland gibt es zu viele Betten, in relativ schlecht ausgestatteten Klinken.

Foto: dpa

Der Posten des Gesundheitsministers galt lange Zeit als so etwas wie ein Himmelfahrtskommando in der Bundesregierung. Helmut Kohl verschliss während seiner Amtszeit als Bundeskanzler fünf Parteifreunde auf diesem Posten, ebenso viele wie Angela Merkel.

Für alle Inhaber und Inhaberinnen des Amtes war es ein schwieriger Spagat zwischen mächtigen Interessenverbänden, Leistungseinschränkungen zur Kostendämpfung sowie den widerstreitenden Interessen der Beitragszahler an stabilen Beiträgen und den Patientenwünschen nach kostenloser Maximalversorgung.

Auch auf den Nachfolger oder die Nachfolgerin des noch geschäftsführenden Gesundheitsminister Jens Spahn warten große und vor allem unpopuläre Entscheidungen. Schließlich gilt es, den unvermeidlichen Kostenanstieg als Folge des medizintechnischen Fortschritts zu bremsen, bei gleichzeitig schrumpfender Beitragsbasis als Folge der rasanten Alterung unserer Gesellschaft.

Zunächst ein paar Fakten: In Deutschland gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber, dass grundsätzlich jedem Patienten jede zugelassene Therapie ohne nennenswerte Kostenbeteiligung zur Verfügung stehen soll. Kaum jemand möchte hierzulande Zustände wie in den USA, wo manch Krebskranker ohne Krankenversicherung obdachlos wird, um seine Arztrechnungen bezahlen zu können. Ebenso unbeliebt sind aber auch lange Schlangen vor Arztpraxen und Krankenhäusern, wie sie in staatlichen Gesundheitssystemen zu beobachten sind.

Die Folge solch eines hohen Absicherungsgrades ist, dass der auf Märkten für eine effiziente Allokation knapper Güter sorgende Preismechanismus außer Kraft gesetzt ist. Eine faktisch unbeschränkte Nachfrage wird daher zum Treiber der Versorgungskosten.

Strukturelle Defizite wuchern

Denn sowohl Patienten als auch die Leistungsanbieter haben ein Interesse daran, dass möglichst viele Gesundheitsleistungen erbracht werden. Der Gesetzgeber ist daher immer wieder zu Eingriffen gezwungen: Preisvorgaben, Mengenbeschränkungen sowie Zuzahlungen von Patienten für Medikamente und Behandlungen.

In den vergangenen beiden Legislaturperioden sorgte der ungemein beschäftigungsintensive Aufschwung für üppig steigende Beitragseinnahmen, auch im Gesundheitssystem.

Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute (HRI) und Chefökonom des Handelsblatts. Er war viele Jahre Mitglied und Vorsitzender des Sachverständigenrats sowie Berater mehrerer Bundesregierungen und ausländischer Regierungen. Mehr zu seiner Arbeit und seinem Team unter research.handelsblatt.com.

Foto: Handelsblatt

Unter dem Deckmantel sprudelnder Einnahmen konnten die strukturellen Defizite dieses Systems wuchern. Zudem beschloss die Regierung angesichts voller Kassen zahlreiche Leistungsausweitungen, die – bestenfalls – in einem ewig währenden Boom finanzierbar gewesen wären.

Tatsächlich brachen in der Corona-Rezession die Einnahmen jedoch ein und die Reserven schmolzen dahin. Um Beitragserhöhungen zu vermeiden, hat der Bund in diesem Jahr bereits rund 20 Milliarden Euro in das Gesundheitssystem geschossen; für 2022 ist eine ähnlich große Finanzspritze vorgesehen. Wenn nichts passiert, drohen also ab 2023 kräftig steigende Beitragssätze.

„Sollen Finanzierungslücken stattdessen über fortgesetzte und potenziell immer umfangreichere Bundeszuschüsse geschlossen werden, sind Anpassungen im Bundeshaushalt nötig“, mahnt die Bundesbank. Und fährt fort: „Ohne höhere Steuern oder Einsparungen an anderer Stelle ist dafür im Bundeshaushalt absehbar kein Spielraum vorhanden.“

Überdurchschnittlich hohe Kosten

Was sind die Handlungsoptionen? Die wohl beste Lösung wäre es, wenn die künftige Regierung bei den strukturellen Mängeln ansetzen würde. Die Schwächen des deutschen Gesundheitssystems sind nämlich seit Langem bekannt und gut dokumentiert: So sind die medizinischen Ergebnisse zumeist durchschnittlich – während die Kosten überdurchschnittlich sind.

Laut OECD wendet Deutschland 12,5 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Gesundheitsleistungen auf, während etwa die ähnlich entwickelten Niederlande mit 11,2 Prozent auskommen. Nur die Gesundheitssysteme der USA, der Schweiz und Großbritanniens sind noch kostenintensiver als das deutsche.

Dennoch kommt Deutschland bei der Lebenserwartung unter den 38 OECD-Staaten nur auf Rang 24. In den meisten westeuropäischen Nachbarländern ist die Lebenserwartung signifikant höher als hierzulande.

Ein wesentlicher Grund für die offenkundige Diskrepanz zwischen hohem monetären Input und dem durchweg nur durchschnittlichen Output ist die wenig effiziente deutsche Krankenhauslandschaft: Es gibt zu viele Betten, in relativ schlecht ausgestatteten Klinken.

Auf 100.000 Einwohner kommen in Deutschland 791 Krankenhausbetten, in den Niederlanden sind es 308 und in Schweden nur 207. In vielen der kleineren Klinken fehlt dem ärztlichen Personal zudem die Routine selbst für Standardeingriffe, sodass es überdurchschnittlich oft zu gravierenden Fehlern kommt.

Duale Krankenhausfinanzierung als Problem

Eine Ursache dieser Überkapazitäten bei gleichzeitiger Unterfinanzierung vieler Kliniken ist die 1972 etablierte duale Krankenhausfinanzierung: Die Bundesländer sind für die Bedarfsplanung und die Finanzierung von Investitionen zuständig.

Die laufenden Betriebskosten, also die Behandlungskosten, finanzieren die Krankenkassen in Form von Fallpauschalen. Da diese im internationalen Vergleich eher knapp bemessen sind, sehen sich viele Klinken gezwungen, durch eine hohe Anzahl von Operationen und durch Einsparungen beim Pflege- und Hygienepersonal wenigstens halbwegs rentabel zu bleiben.

Gleichzeitig hatten die meisten Bundesländer über Jahre hinweg mit erheblichen Haushaltsdefiziten zu kämpfen, sodass vielfach bei den Investitionen nicht zuletzt auch im Krankenhausbereich gespart wurde.

Eine Schließung kam in vielen Fällen aus Sicht der Länder jedoch nicht infrage, da die laufenden Kosten ja von den Krankenkassen getragen wurden und heftiger politischer Ärger bei Klinikschließungen programmiert ist. Und so blieb fast alles, wie es ist – obwohl jeder Gesundheitspolitiker um die Ineffizienz des Systems wusste.

Ambulante Behandlungen sind bei vielen Befunden kostengünstiger als stationäre – doch auch hier laufen die Kosten aus dem Ruder. Im Schnitt gehen die Deutschen zehnmal pro Jahr zum Arzt und damit fast doppelt so häufig wie etwa die Iren und fast viermal so oft wie die Schweden. Als wesentlicher Grund gilt, dass der Arztbesuch für den einzelnen Patienten seit 2013 wieder kostenlos ist.

Im Gegensatz dazu müssen in Schweden Patienten bei jedem Arztbesuch eine Praxisgebühr von etwa 20 Euro entrichten. Zudem werden in vielen Ländern möglichst viele Konsultationen kostengünstig elektronisch via Chat oder Videotelefonat abgewickelt.

Darüber hinaus leistet sich Deutschland ein kostenintensives Apothekennetz. So kommt in Deutschland auf zwei Supermärkte eine Apotheke. Von den 37,6 Milliarden Euro Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenkassen verbleiben 14,7 Prozent bei den Apotheken als Gewinnmarge. Die gesetzlichen Kassen und damit die dort Versicherten kostet dies jährlich etwa 5,5 Milliarden.

Schwierige Aufgabe für kommende Bundesregierung

Die nächste Bundesregierung steht also vor der schwierigen Aufgabe, den Sozialstaat und damit auch das Gesundheitssystem auf zwei demografisch sehr schwierige Dekaden vorzubereiten. Dabei sollte es nicht um Leistungseinschnitte gehen.

Es sollte eher um die Entwicklung und Implementation kluger Eigenbeteiligungsmodelle gehen, um unnötige Beanspruchungen von Ressourcen zu begrenzen. Zudem könnte eine konsequente Digitalisierung entlang der Wertschöpfungskette des Gesundheitssystems helfen, Verwaltungskosten und Doppelarbeiten zu sparen.

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Perspektivisch gilt es sicherzustellen, dass das Gesundheitssystem dauerhaft leistungsfähig bleibt. Dazu wird die Regierung um eine grundlegende Reform der Krankenhausfinanzierung, eine Optimierung der Standorte und eine Weiterentwicklung der Arzneimittelversorgung kaum herumkommen.

In den nächsten Jahren Gesundheitsminister zu sein, dürfte wohl noch unangenehmer sein als in der Vor-Corona-Zeit. Die nächste Leitung des Gesundheitsministeriums wird neben Sachverstand und dem sprichwörtlichen „breiten Kreuz“ viel politischen Rückhalt brauchen – denn effizienzorientierte Gesundheitsreformen rufen stets besonders massive Widerstände hervor.

Mehr: 21 Aufgaben, die die nächste Regierung dringend anpacken muss

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