Kommentar: Großbritannien leidet an Realitätsverlust

Soldaten sollen nun bei der Versorgung helfen.
In Manchester lässt sich in diesen Tagen eine Partei besichtigen, die den Boden der Realität verlassen hat. „Dieses Land ist führend in der Welt, wenn es um Lieferketten und Logistik geht“, behauptete Premierminister Boris Johnson in einem Interview am Rande des Tory-Parteitags. Auch sein Finanzminister Rishi Sunak schwelgte in Superlativen: Man werde Großbritannien „zum aufregendsten Ort des Planeten machen“.
Angesichts der Versorgungskrise im Land fragt man sich, auf welchem Planeten die beiden Politiker leben. Der dröhnende Optimismus wirkt besonders fehl am Platze, da am Montag die Armee ausrücken musste, um die Tankstellen zu beliefern. Die Soldaten mussten einspringen, weil es auf der Insel an Lastwagenfahrern mangelt. Auch zahlreiche andere Branchen klagen über akuten Arbeitskräftemangel, der durch das Ende der Freizügigkeit seit dem Brexit verschärft wurde.
Die Krise sollte nach dem Willen der Parteitagsregie in Manchester jedoch keine Rolle spielen. Insbesondere der Brexit als eine der Ursachen der Misere wird daher totgeschwiegen. Stattdessen stellen Johnson und Sunak die Lieferkettenprobleme als globales und temporäres Problem dar, das sich von selbst erledigen wird.
Die Realitätsverweigerung betrifft nicht nur die Regierungspartei. Auch der Labour-Opposition kommt das B-Wort nicht über die Lippen. Oppositionsführer Keir Starmer will das Pro-EU-Stigma loswerden, das der Partei seit dem Referendum anhaftet. Er fürchtet, dass ein Brexit-Streit nur Johnson nutzen würde. Doch unterstützt er mit seinem Schweigen unfreiwillig das Narrativ des Premiers, dass die Versorgungskrise nicht mit dem Brexit zusammenhänge und die Regierung mithin keine Schuld trage.
Indirekt hat Johnson längst eingestanden, dass die zusätzlichen Brexit-Hürden der Wirtschaft schaden. Deshalb hat er die Zollkontrollen für importierte EU-Güter kürzlich um weitere neun Monate aufgeschoben. Und er hat 10.000 zeitlich befristete Sondervisa für Lastwagenfahrer und Schlachter aus der EU angekündigt. Sunak nennt dies „pragmatische kontrollierte Einwanderung“. Es ist die Einsicht, dass die britische Wirtschaft ohne Einwanderer, und zwar auch Geringqualifizierte, nicht funktioniert.
Erstaunlicherweise liegen die Konservativen in den Umfragen immer noch vorn. Die Aussichten für Johnson sind jedoch nicht rosig: Die Lebenshaltungskosten steigen auf breiter Front, auch die Steuern werden eher steigen als sinken. Wenn Johnson das nächste Mal vor die Wähler tritt und fragt, ob es ihnen besser geht als vor vier Jahren, wird die Antwort wahrscheinlich Nein lauten. Dann wird er die Schuld nicht mehr auf Corona schieben können.





