Kommentar: Kanzlerdämmerung: Sebastian Kurz' Politikstil der Effekthascherei und Kumpanei ist an seine Grenzen gestoßen

Der einst strahlend gestartete österreichischen Kanzler ist angeschlagen.
Manchmal greift Sebastian Kurz zu billigen Taschenspielertricks, um seine Leistung zu glorifizieren. Bei der Pandemiebekämpfung etwa hat Österreichs Regierungschef flugs eine neue Kennzahl erfunden: Mittlerweile hätten 50 Prozent der Impfwilligen eine Erstimpfung erhalten, hieß es vor wenigen Tagen aus dem Bundeskanzleramt.
Man verkleinere schnell einmal den Nenner (Impfwillige statt Bevölkerung) – schon sieht die Impfstatistik eindrücklich aus. Dabei kommt Österreich mit der Immunisierung der Bevölkerung keineswegs rascher voran als Deutschland.
Kurz' Art des Regierens zielt ganz auf kurzfristige Effekte. Er besitzt keine Skrupel, wenn es darum geht, sich als Macher zu präsentieren und von Schwierigkeiten abzulenken.
Im Frühjahr nahm er dafür beispielsweise sogar einen Streit mit befreundeten Ländern der EU in Kauf. Als sich abzeichnete, dass die Impfung in Österreich nicht so rasch vorankommt wie angekündigt, behauptete er ohne faktische Grundlage, in der EU gäbe es einen „Impfbasar“, auf dem sein Land und andere Staaten benachteiligt seien.
Schlimmer noch: Kurz hatte auch keine Hemmungen, sich auf die Ränkespiele von Russlands Präsident Wladimir Putin einzulassen. Dieser verwendet den Impfstoff Sputnik V geschickt, um einen Keil in die EU zu treiben. Kurz kümmerte das wenig, als er im April mit Russland über eine Impfstofflieferung für Österreich verhandelte: Auch das war vor allem Show, um von innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken.
Kritik auch aus der Wirtschaft wird schärfer: „Verfall der politischen Sitten“
Schon damals war nämlich klar, dass Österreich mit Sputnik V nicht impfen können wird, solange dieser von der Europäischen Arzneimittelagentur nicht zugelassen ist. Und dass die Russen zweitens gar nicht genügend Produktionsstätten besitzen, um Europa nennenswert mit dem begehrten Stoff zu versorgen.
Kurz' Versuch, in Russland Vakzine zu beschaffen, wird deshalb eine Episode bleiben – wie so manches, was die eingeschworene Entourage des Kanzlers ausheckt, um ihn vorteilhaft zu präsentieren. Doch sein Politikstil stößt jetzt an seine Grenzen.
Zumindest Teile des Publikums durchschauen die Masche mittlerweile. Vor allem in der Wirtschaft, die eine der Säulen von Kurz' Partei, der ÖVP, darstellt, regt sich seit Neuestem Kritik. Ende vergangener Woche sprach der Industrielle Jochen Pildner-Steinburg in der Zeitung „Der Standard“ von einem „Verfall der politischen Sitten“ in Österreich.
Dabei waren Kurz und seine Getreuen, unter ihnen Finanzminister Gernot Blümel, mit dem Anspruch angetreten, eine neue Art der Politik zu betreiben: Sie wollten die alten Netzwerke aufbrechen. A
ber auch Kurz ist ganz von der österreichischen Politiktradition der Kumpanei und des Postengeschachers geprägt. Alte, formale Netzwerke wie Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften oder Landesorganisationen hat er durch ein Geflecht ausgetauscht, das rein auf persönlichen Beziehungen beruht.
Auch alte Übel des Postenschachers besteht offenbar weiter
Doch unzählige Funktionsträger von Kurz' Gnaden haben jüngst einen eher zwielichtigen Eindruck gemacht: Arbeitsministerin Christine Aschbacher musste zurücktreten, weil ihre Diplomarbeit Textplagiate enthielt. Finanzminister Blümel geriet wegen mutmaßlich illegaler Parteispenden ins Visier der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKSta). Auf die Hausdurchsuchung bei Blümel reagierte Kurz wenig souverän, er sprach von einem Angriff der Justiz auf seine Regierung und die ÖVP.
Auch das alte Übel des Postenschachers besteht offenbar weiter: So illustrieren Chats, wie es dem Chef der staatlichen Beteiligungsgesellschaft Öbag, Thomas Schmid, gelungen ist, sich diesen gut dotierten Job gleichsam zuzuschneiden. Die Rückendeckung von Kurz' Netzwerk besaß er, denn Blümel beschied ihm in einem flapsig formulierten Chat: „Du bist Familie.“
Mittlerweile stellt sich die Frage: Drängte gar Kurz darauf, Schmid an der Spitze der Öbag zu installieren, und machte er dazu falsche Aussagen vor dem sogenannten Ibiza-Ausschuss des Parlaments? Dem geht die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft jetzt nach, sie ermittelt gegen den Regierungschef.





Akut gefährdet ist Kurz nicht in seinem Amt. Aber nach 14 Monaten Pandemie ist der mit so viel Lobgesang gestartete junge Kanzler deutlich angeschlagen. Dabei stehen ihm schwere Monate bevor. Die Pandemie hat Österreichs Wirtschaft härter getroffen als jene Deutschlands. Vor allem aber leidet sie unter Problemen, die nichts mit der Pandemie zu tun haben. Die Sockelarbeitslosigkeit etwa ist verhältnismäßig hoch, und der bedeutende Automobilsektor steht vor einem grundlegenden Wandel.
Mit ihrer Politik der Effekthascherei wird die Regierung diese Probleme nicht lösen. Doch ob sich Kurz neu erfinden kann, auch das seriöse Arbeiten im Hintergrund beherrscht, ist ungewiss. Die vergangenen Monate stimmen skeptisch.
Mehr: Gegen Österreichs Kanzler Kurz und seinen Kabinettschef laufen Ermittlungen wegen Falschaussage.





