Kommentar: Liz Truss ist noch Premierministerin, die Macht hat sie jedoch längst verloren

Die Premierministerin steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Regierungsagenda.
London. Geschichte wiederholt sich doch. Manchmal jedenfalls. Als der frühere britische Premierminister John Major seinen Schatzkanzler Norman Lamont 1993 nach dem demütigenden Ausscheiden seines Landes aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus (WKM) feuerte, hinterließ der Geschasste ein Bonmot, das nicht nur die damalige, sondern auch die heutige Regierung in London ganz gut beschreibt: „Wir erwecken den Eindruck, im Amt, aber nicht an der Macht zu sein.“
Liz Truss ist noch Premierministerin Großbritanniens, die Macht hat sie jedoch längst verloren. Sie hat unter dem massiven Druck der Finanzmärkte ihren Schatzkanzler, Freund und Gesinnungsgenossen Kwasi Kwarteng entlassen und ihren früheren politischen Rivalen Jeremy Hunt zu dessen Nachfolger und damit zum mächtigsten Politiker im Vereinigten Königreich berufen.
Ein Zerwürfnis mit ihrem neuen Kassenwart würde Truss politisch nicht überleben, Regierungschefin ist sie nur noch dem Namen nach. Politisch ist sie eine „Dead Woman Walking“. Die britische „Daily Mail“ spekulierte bereits, dass Truss noch in dieser Woche abgesetzt werden könnte und berichtete von einem geplanten Misstrauensvotum.
Der neue Finanzminister hat die unter „Trussonomics“ bekannt gewordene wirtschaftspolitische Agenda seiner Premierministerin, das Herzstück ihrer Regierung, innerhalb von 24 Stunden zerpflückt. Aus „Wachstum mit Steuersenkungen auf Pump“ ist über Nacht ein Sparkurs mit Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen geworden. Großbritannien steht vor harten Einschnitten auch bei den Sozialleistungen, die Truss vor wenigen Tagen im Parlament noch ausgeschlossen hatte.
Dass der Spitzensteuersatz nicht gesenkt und die Unternehmensteuern doch erhöht werden, musste die Premierministerin selbst noch verkünden. Hunt will nun darüber hinaus die Staatsausgaben kürzen und schließt auch weitere Steuererhöhungen nicht aus. Die von Truss und Kwarteng für April 2023 angekündigte Einkommensteuerentlastung steht dem Vernehmen nach bereits zur Disposition.

Die Premierministerin steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Regierungsagenda.






Gescheitert ist jedoch mehr als nur Truss“ stümperhafte Mission wirtschaftsliberaler Dschihadisten. Ihr Aufbegehren gegen die Gesetze ökonomischer Schwerkraft war im Grunde der letzte gescheiterte Versuch der Brexit-Fanatiker, den bleiernen EU-Austritt in die goldene Epoche eines „Global Britain“ münden zu lassen.
Das Inselreich erwacht langsam aus einer surrealen politischen Hypnose, mit der die Tories das Land seit dem Brexit-Referendum 2016 an der Nase herumgeführt haben. Ihr Schlachtruf „Take back control“ dürfte den Brexit-Anhängern spätestens nach der Maßregelung durch die internationalen Finanzmärkte im Halse stecken bleiben. Großbritannien braucht einen Neuanfang. Neuwahlen wären der beste Weg aus der Misere.
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